Die Heiterkeit im Merlin.
Die Liebe, der Schaffensprozess, die Religion und der Tod. Es sind die großen Dinge der Welt, denen sich Die Heiterkeit auf ihren beiden jüngsten Platten Pop & Tod I + II widmet. Man könnte Bibliotheken damit füllen. Doch die in Hamburg, Berlin und Köln ansässige Band entschied sich für den Weg der Komposition. So finden sich auf den Platten 20 Songs, die an Effektivität dank Einfachheit derzeit kaum zu überbieten sind. Große Gesten mit simpelsten Mitteln. Zeilen, die die Gesamtheit der Dinge auf den Punkt bringen. Und im Kopf verankern. Ja, auch in Zukunft werden diese Kompositionen wohl kaum zu überbieten sein. Diese dritte Platte ist das, was man gemeinhin als großen Wurf bezeichnet. Man könnte sie auch einfach als Alben der Dekade bezeichnen.
Die mediale Berichterstattung überschlug sich vor Lob – zurecht. Dementsprechend groß ist die Erwartungshaltung nun an diesem regnerischen Abend im November. Und dementsprechend zahlreich ist das mit überregional bekannten regionalen Musikern getünchte Publikum im Merlin Stuttgart. Die Tonstücke JFR Moons samt Band verstummen gerade in den Räumlichkeiten. Man vernimmt moderates Plaudern. Die dunkel gekleidete Heiterkeit baut gemeinsam mit der Lässigkeit ihre Instrumente auf. Stella Sommer tritt mit kühler Entschlossenheit gen Keyboard – und hier kommt "Die Kälte". Das Augenpaar jeder verlorenen Seele im Raum richtet sich auf Sommer. Ihre Stimme kontrolliert jeden Atemzug, jeden Blick, jede Pore, jeden Herzschlag. Sie weiß es. Sie spürt es. Es ist ihr gleich.
Ohne Schnickschnack wechselt Sommer auf die Gitarre und stimmt "Betrüge mich gut" an. Und nun setzt das Schlagzeugspiel Philipp Wulfs mit ein. Sodann zeigt sich eine der größten Neuigkeiten im Die Heiterkeit-Kosmos. Philipp Wulf, bekannt allen voran durch seine Maloche in der Gruppe MESSER, ist eine der fruchtbarsten Additionen im Sound der Band. Sein durchdringender Punch im Wechselspiel mit zurückgelehnter Gelassenheit und mannigfaltigem Schlagwerk hebt alte wie neue Stücke der Truppe auf neue Ebenen. Das ohne großes Geplapper folgende "Weiße Elster" präsentiert hernach den nächsten Goldgriff nach Monterey: Den mehrstimmigen Chor, möglich gemacht von den Kehlen Sonja Deffners am Keyboard und Hanitra Wagners, auch bekannt von Oracles, am Bass. Welch simpler Schachzug, der der kalkulierten Knappheit der Texte eine beinahe klerikale Größe verleiht.
Man denkt an Gemälde aus dem Mittelalter. An Ikonen. An den Adel. Der heute nur zum Mitsingen verpflichtet. Wenn man die Konterfeie der MusikerInnen im Bühnenlicht sieht und dem Konsens aus der tiefen, unzerrüttbaren, ja, unantastbaren Stimme Sommers und den zart gehauchten Worten Deffners und Wagners lauscht. Man denkt an die Gesamtheit der Dinge. An die Unveränderlichkeit. An die Ewigkeit. Wenn Sommer in "Pop & Tod" die Worte "Strophe Refrain. Dazwischen Zerrissen." rezitiert und in "Im Zwiespalt" die Zeile zum Niederknien "Distanz als Form von Nähe." mit unbeirrter Willensstärke über ihr Mikrofon dem Publikum zum Fraß vorwirft.
Es ist zum Ausrasten. Mit welcher Gelassenheit, mit welcher Ruhe, mit welcher Selbstgewissheit Die Heiterkeit ihre Songs darbietet. Als wären Stücke wie "Dünnes Eis" oder "Das Ende der Nacht" das normalste auf der Welt, arbeitet sich die Band an ihrer Setlist ab. Ohne jedoch genervt zu wirken. So erlaubt die Chemie auf der abgeklärten Bühne ein paar lächelnde Intermezzi dank sich ständig verstimmender Instrumente. Bis der kriechende, atmosphärische Beginn von "Komm mich besuchen" die Vielseitigkeit der Truppe erst andeutet und schließlich doppelt unterstreicht, als der Song zum Ende hin Fahrt aufnimmt und in einer übersteuerten Kakophonie endet. Auf die Spitze getrieben vom wilden Spiel Wulfs, der einen Blastbeat darin verwebt. Ad absurdum geführt vom Solo Sommers, die zur Unterstreichung der Zeile "Komm mich besuchen, wenn es niemand sieht." dem Publikum demonstrativ ihren Rücken zuwendet.
Doch die Enervierung ob der schieren Entspanntheit, mit der die Band nun von der Bühne schreitet, um dann "Kapitän" und "Pauken und Trompeten" als Zugabe anzustimmen, beginnt, sich in Verständnis aufzulösen. "The End", diese unglaublich versöhnliche, und friedliche Auseinandersetzung mit dem Abgang und der letzte Song an diesem Abend, ist nichts weniger als ein Stück für die Ewigkeit. Genau wie alle Songs auf Pop & Tod I+II ist er ebenso groß wie das Thema, dessen er sich annimmt. Und damit größer als dieses Konzert. Größer als diese Nacht.
"Es wird in Ordnung sein", lässt uns der Chor wissen. Und es stimmt. Es wird immer in Ordnung sein, diese Stücke zu spielen, zu singen, zu hören. Egal, ob sie von ihren Schöpfern dargeboten werden oder nicht. Wohl gehen sie über in unser aller Besitz. Leben ihre eigens Leben. Werden reinterpretiert, rezipiert, reinszeniert. Übersetzt in andere Sprachen. Weitergegeben an zukünftige Generationen. Niemals vergessen. In kurz: Unsterblich.
Eine photographische Rekonstruktion der Schau finden Sie hier. Die Platten Pop & Tod I+II sind bei Buback Tonträger erschienen. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Und naturgemäß den Besuch eines Konzertes von Die Heiterkeit. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören.