MESSER und die Lust.
Eine Stadt im Herbst. Eine Stadt im Regen. Ein Loch im Beton. Ein roter Raum. Darin: Staub. An all den Dingen. In jeder Ecke. Dazwischen spärliches Licht. Es verbannt die Dunkelheit in die Winkel. Es findet den Weg nach draußen nicht mehr. Es beleuchtet schwach. Die beinahe kunstvoll drapierten Instrumente. Die zahlreicher werdenden verlorenen Seelen. Die es hierhin zog. Denn MESSER sollten heute hier spielen. Im Gepäck haben sie ihre jüngste Platte "Jalousie". Und mit ihr eine Vielzahl an Neugestaltungen und Umwälzungen im personellen wie klanglichen Bilde dieser Musikgruppe. Wie sich diese gestalten, vermag noch keiner vorherzusagen. Bestimmen lässt sich lediglich eines: Es liegt etwas in der Luft.
Als der Münchner Solokünstler Constantin John alias Persona nun beginnt, seine Kreationen in die Winkel des Raumes zu hieven. Den Geist der Musik aus der Maschine zieht. Ihn verfremdet, bis zur Auflösung wiederholt und schließlich entgleiten lässt. Die Meute, der Raum, die Zeit. Sie warten gespannt. Lassen sich gemeinsam mit den Tönen die Maske der Veränderung überstülpen. Folgen, zwar verhalten, aber doch, ihrem Fortgang in die Entsagung der eigenen Identität. Schweben mit ihnen transzendent durch den Raum. Angetrieben vom Korg-Piano, von der Loop-Station, von der Stratocaster. Eine Gestalt, gehüllt in einen braunen Mantel, tritt hinter der Bühne hervor, mischt sich unter die Zuschauer. Beobachtet mit ihnen die Negation der üblichen Struktur eines Songs, der Hermeneutik, der Identifikation. Persona macht dieses Gedankenkonstrukt durch ungreifbare Kompositionen für den Moment greifbar. Und erntet verdienten Applaus.
Die Luft schmeckt nach Rauch indes spärliches Licht in mannigfaltigen schwarzen Flecken zu Boden fällt. Inzwischen hat sich der Raum beinahe vollends gefüllt. Und mit ihm jener der Möglichkeiten. Denn die Bühne ist in einem Bogen der Instrumentarien angeordnet. Er läuft über den linken Teil der von einem Schild aus Effekten geschützten Gitarre über ein üppig ausgestattetes Schlagwerk zum kontrastierenden minimalistischen Schlagzeug und mündet in einem Bass, vor dem eine Orgel prangt. In ihrer Mitte: Ein Mikrofon. Das nun von einer Hand umfasst wird – sie steckt in einem braunen Mantel. Die Detektive erklimmen die Bühne. Eine verheißungsvolle Orgel erfüllt die Winkel, die Körper, die Luft. Und "Es riecht nach Regen", als Hendrik Otremba die ersten Zeilen von "So sollte es sein" rezitiert.
Da peitscht der fiebrige, treibende Bass Pogo McCartneys "Augen in der Dunkelheit" durch die Menge. Endlich: Die Luft entzündet sich. Entlädt die Erwartungen, die Angespanntheit, die Verkrampftheit zu Feuer, Feuer, Feuer. "Die kapieren nicht" schließt nahtlos an, schießt weiter nach vorne. Denn man muss es nicht kapieren, man fühlt es. MESSER haben sich in ihrer Stube eingeschlossen. Gewerkelt, probiert, experimentiert. Den eigenen Horizont expandiert, geschärft, intensiviert. Und damit den Wirkungskreis ihrer Musik eskaliert. Jeder für sich und alle zusammen. Die Hinzunahme Mileks an der Gitarre und Manuel Chittkas an den Percussions addiert neue Sphären, neue Ebenen zum Sound MESSERs. Befeuert ihr Spiel. Man spürt es zu jeder Sekunde.
Im Punch des Schlagzeugers Wulf, der im schweißtreibenden Wechselspiel mit Chittkas Sammelsurium an Schlagwerk gleichsam Fundament wie Atmosphäre erzeugt. Im ultimativen, drastischen Bass Pogos, der von der großflächigen Offenheit seiner Orgel abgelöst wird. In Mileks selbstvergessenem Taumel zwischen tüftlerischer Sphärik und düsterer Angriffslust. In Otrembas gepresstem Gesang, der zwischen hektischem Geschrei und beinahe entwurzeltem Sprechgesang changiert. Doch in all seinen Facetten dem lyrischen Anspruch MESSERs gerecht wird. In Otrembas exzentrischem Wandeln über die Bühnenbretter. In seinem Erklimmen der Monitorboxen. In seinem starren, überzeugten Blick. In seinem Zugehen auf seine Mitstreiter. In seinen exaltierten Gesten. Und auf das Feuer in der Luft tropft der Schweiß.
Die zahlreichen Nova im Sound der aus Münster stammenden Musikgruppe erlaubt dem Stuttgarter Publikum derweil ein neues Kennenlernen bekannter Stücke. "Es gibt etwas", "Gassenhauer" oder "Angeschossen" tönen und glänzen in neuem Licht. Doch während die Augenzeugen sich im Johlen und Applaudieren ob des Goutierens jener Neuheiten zu übertreffen versuchen, tropft eine Erkenntnis aus der Luft: MESSER lernen sich gerade auch selbst neu kennen. So tritt Otremba während des instrumentalen Teils von "Gassenhauer" von der Bühne und wird selbst zum Beobachter des Spektakels. Des spielerischen, experimentellen Vorwärts des Inhalts dessen, was wir mit MESSER verbinden. So agieren die Musiker allen voran zueinander gerichtet – und scheinen die tanzende, singende, zappelnde Menge bisweilen gar nicht zu bemerken.
So stark, so intensiv ist die Lust dieser Band an der Wahrnehmung der eigenen schöpferischen Weiterentwicklung. So reflektiert scheint sie diese als ihr höchstes Gut auserkoren zu haben. Ungeachtet der Meinungen anderer. Unabhängig der Erwartungen von außen. Unbekümmert über potenzielle Verkaufszahlen. Nur so kann das textliche Spektrum Otrembas im heute als "Die Frau, die zweimal lebte" angekündigten Song das schwierige, weil schnell klischeebehaftete Gefilde der Liebe erschließen. Nur so kann ein Song wie "Der Staub zwischen den Planeten" mit seiner Erotik die Hüften zum Schwingen bringen. Diese unschuldige Lust auf der Bühne am Austarieren dessen, was musikalisch noch möglich ist, springt folglich auf die Zuschauer über.
So bugsiert der nicht enden wollende Applaus MESSER für "Die Hölle" und "Mutmaßungen über Hendrik" zur regulären Zugabe auf die Bühne zurück. Doch die Lust an der Lust soll heute kein Ende finden. Also erklatscht sich das Zwölfzehn eine weitere Zugabe. Und das letzte Aufbäumen des Feuers lässt dank dem mit Vorwarnung angekündigten, weil nicht geplanten Song "Abel Nema" vom Debüt "Im Schwindel" tatsächlich noch einen Pogo entstehen. MESSER verneigt sich grinsend und sichtlich gerührt vor Stuttgart. Und Stuttgart verneigt sich vor MESSER. Und bleibt in freudiger Erwartung dessen zurück, was unter dem Namen MESSER in Zukunft Augen und Ohren erreichen wird. Von nun an ist alles denkbar.
Eine photographische Rekonstruktion der Schauen von Persona und MESSER erreichen Sie per Klick. Die Platten "Im Schwindel" und "Die Unsichtbaren" wurden vom neuen Label der Truppe, Trocadero, neu aufgelegt. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Naturgemäß auch der jüngsten Platte "Jalousie". Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören.