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33 Jahre Merlin: Glanzzeiten und Durststrecken.

Das Merlin feiert 33 Jahre Bestehen. 

Zu den Dingen, die die Welt braucht, gehört zweifelsohne das Kulturzentrum Merlin in Stuttgart. Seit Sage und Schreibe 33 Jahren entledigen sich dort zukünftige Profi-Musiker ihrer Bühnen-Jungfräulichkeit. Alte Hasen statten ihm regelmäßig Freundschaftsbesuche ab. Bands aus der Region finden und fanden im Rahmen des Klinke Festivals neben dem Komma in Esslingen eine Anlaufstelle mit offenen Ohren und Augen für Musik, die ihre Feldzüge bisweilen überregional ausweiten durfte. Das Gespür der Personen hinter der Fassade für den Puls der Zeit hat dem Merlin ein loyales Publikum beschert. Nicht zuletzt durch die Reihe Pop Freaks, die zum absoluten Festpunkt im Veranstaltungskalender jedes Musikinteressierten geworden ist. Oder schnellstens werden sollte. Denn Jahr für Jahr schafft es das Festival, Rohdiamanten der Poplandschaft Deutschlands zu buchen – und ihren letzten Schliff im kleinen Rahmen beobachtbar zu machen. Drangsal ist nur eines der jüngsten Beispiele.

Einer der wenigen Namen, auf den man sich verlassen kann: Merlin Stuttgart.

Doch das Merlin ist noch viel mehr als nur Musik. Es bietet Platz für Topoi und Kunst verschiedenster Facetten. Seien es Literatur, Theater, Film, Kabarett, Pädagogik oder sonstige Themen gesellschaftlicher Relevanz. Alles, was in der gleich geschalteten Welt des viel beschriebenen aber leider doch immer wieder fürchterlich sich bestätigenden Mainstream keinen Platz findet, findet ihn im Merlin. So ist das Merlin längst nicht nur ein Zentrum für Kultur. Es ist selbst Kultur geworden. Es ist ein fruchtbares Biotop für Menschen, die sich Gedanken über die Welt machen und diesen Gedanken mittels wie auch immer gearteter Aktivität Ausdruck verleihen. Als Künstler, als Konsument, als Kritiker. Alles, was kein Nazischwein ist, ist willkommen. Und das will gefeiert werden.

So bucht das Merlin kurzum Freunde des Hauses und lässt sie jeweils 33 Minuten spielen. Öffnet restlos alle Türen, was Besuchern einen Blick in die Backstage-Räumlichkeiten gewährt. Offeriert gemeinsames Frühstück, einen Blick auf Fotos vergangener Shows und Veranstaltungen unterschiedlichster Couleur. Wir konzentrieren uns auf die Musik.

Braucht wirklich keine Sau: Enno Bunger.

Womit wir also bei den Dingen wären, die die Welt nicht braucht. Enno Bunger zum Beispiel. Der sich mit seinen um schlechte Wortspiele geflechteten Songs selbst jeglicher potenzieller Relevanz beraubt und musikalisch wie optisch so sehr niemandem weh tut, dass es schon wieder weh tut. Das ist der Inbegriff der Angepasstheit. Nein, das ist ein anderes Wort für Langeweile. Oder The Jerks. Die uns mit ihrer schlechten Kopie einer schlechten Kopie einer schlechten Kopie von Stadion-Rock und Kindergarten-Poserei grübeln lassen, ob das hier nun sehr gute Satire oder sehr traurige Realität ist. Ernst gemeinte Frage: Meint ihr das ernst? Oder das "akustische" Set von SEA + AIR. Glänzen die beiden Multiinstrumentalisten üblicherweise durch ein spannendes Potpourri an Instrumenten, fällt beim Fehlen selbiger auf, wie dünn ihre Liedchen auf der Brust tatsächlich sind. Es bleibt ein zwar sympathisches, weil stimmlich gutes Set, das musikalisch und textlich jedoch Wünsche offen lässt.

Ein Highlight der Feierlichkeiten: Putte und Edgar.

Selbiges gilt für das Set von Putte und Edgar. Doch bleibt hier nur wahlweise der Wunsch nach Verlängerung oder Wiederholung des selbigen. Wunderbar krude doch herzlich innig erhellt die stets improvisierte, sprunghafte Mischung aus Electronic Dance Music, Krautrock, Techno, Old School Hip Hop und Beatboxing das Merlin. Seit Jahren müht sich die Kreation der beiden an Vergleichen mit Prodigy, Sonic Youth, Can und vielen mehr ab. Neo-Krautrock heißt es hier. Avantgarde-Punk hieß es dort. Doch gibt es nur zwei Worte, die das Treiben beschreiben: Putte und Edgar. Die mit dem unsichtbaren dritten Mann der Truppe, Flo von Zeitschleife Visuals, eines der Highlights der Festivität bilden.

Denn Highlights kann die Welt gebrauchen. Wie das Set von Gisbert zu Knyphausen. Ein Anruf hat genügt, um den fast als altgedienten Herren zu beschreibenden, raunzenden Barden samt zwei Gitarren in das für seine Verhältnisse mittlerweile zu klein gewordene Merlin zu bekommen. Ohne jegliches Getue schlurft er auf die Bühne, stimmt seine Klampfen und sein Set direkt an. Auf die 33 Minuten Spielzeit wird kurzerhand geschissen, genau wie auf Flachwitze zwischen den Songs. Idiosynkratisch, gleichsam selbstverloren und selbstbewusst zieht zu Knyphausen seine Zuschauer binnen weniger Minuten in seinen Bann. Klar, zu Knyphausen hat leichtes Spiel vor diesem Publikum. Erfüllt er ihm doch auch Songwünsche auf Zuruf. Doch scheint ihm zwischen einiger sympathischer Verspieler und Textunsicherheiten selbst gewahr zu werden, wie lange seine letzte Platte mittlerweile zurückliegt. Die Zeit der Trauer und – ja – der Melancholie, ausgelöst durch das unglückliche Schicksal Nils Koppruchs, löst sich innert des samt Zugabe knapp zweistündigen, intimen Sets immer mehr in neu geschöpfte Kraft. So verspricht zu Knyphausen am Ende auch, jetzt wieder mehr zu spielen. Der nicht enden wollende Applaus zeugt davon, dass es an der Zeit für neue Großtaten ist.

33 Jahre Glanzzeiten und Durststrecken, geradezu sinnbildlich zusammengefasst in einige wirklich gute und einige unglaublich langweilige Shows. Doch ist dies keineswegs ein Wermutstropfen. Denn genau jene offenherzige, scheuklappenfreie Mischung, die Fehler auch verzeiht, ist es, die ein Zentrum wie das Merlin ausmacht. Denn nur, wo Fehler gemacht werden dürfen, kann Großes entstehen. Immer und immer wieder. Mit solch einer Einstellung werden aus 33 Jahren ganz schnell auch 333 Jahre. Wir würden uns freuen.

Wir danken dem Merlin für die freundliche Einladung. Und hoffen insgeheim doch auf das 666. Jubiläum. Denn die dafür passenden Bands würden wir nur zu gerne im Merlin sehen. Hier gibt's noch Galerien zu The Jerks, Swim Bird Fly, Putte und Edgar, Annagemina, Enno Bunger (wer den wirklich sehen will), SEA + AIR und Gisbert zu Knyphausen. Im Übrigen sind wir der Meinung, sie sollten mehr Human Abfall hören. Nicht nur, weil der Autor diese Band zum ersten Mal in ebenjenem Merlin live gesehen hat.