Fragmente

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Sezierung des Selbst.

Aus Not wird Jugend: Karies zerrütten die Container.

Die Musikgruppe Karies ist darauf und dran, ihren jüngsten selbstbetitelten Kurzspieler zu veröffentlichen. Der Zelebrationsreigen wird begleitet von einer ebenso kurzen Schaufahrt mit neuen und alten Stücken durch deutsche Lande. Deutschland, ein Albtraum. Möchte man denken. Doch fehlt in diesem Wortspiel-Konstrukt der klebrige Pop, den die Zahnbelagsentferner ihren sonisch-simplen Eskapaden unlängst vermehrt hinzufügten. Die heimatliche Zurschaustellung der Live-Fähigkeiten dieser Neuigkeiten findet in den Containern nebst den Wagenhallen statt. Wir nehmen hoch das Bein und treten ein.

Irgendwo in der Dunkelheit, zwischen Nebel, Kälte, Nässe, schneidet sich ein Lichtsturm in Existenz. Der Schein wird verdunkelt von einer Tür. Drinnen gibt es Kaltgeschöpftes. Doch wird den unterkühlten Seelen warm ums Herz. Hier kennt man sich. Auch vom Wegsehen. Die Bühne da vorne ist mehr Stolperstein als Brett, das die Welt bedeutet. Wen kümmert’s. Größenwahn wird ohnehin nur von Kleingeistern betrieben. Mit jedem unserer Feinstaub-vergifteten Atemzüge wird der Platz in diesem Sündenpfuhl des Non-Establishments drastisch reduziert. Schön. Wir wähnen uns in Unsicherheit. Und stimmen schließlich in die „Kevin!“-Rufe ein, als die Gastgeber endlich ihr Pferd satteln.

Was passt, wird unpassend gemacht.

Kein Zögern. Kein Zetern. Jetzt geht es nur noch abwärts. Mal kurzatmig schnell, mal zufrieden zurückgelehnt, drischt dieser Kevin Kuhn, der so viel zu tun haben will, seine Mitstreiter voran. Mitten durch exaltierte Eruptionen. Durch dadaistische Denkmuster. Durch aufs Äußerste reduzierte Reizungen. Eben durch das rostig-rotzige Reinheitsgebot der neudeutschen Stuttgarter Gitarrenmusik. Einer Hassliebe aus rohem britischen Punk und selbstverliebter Synthie-Pop Romantik. Dessen Pop-Anteil jedoch gerade in den neuen Stücken in dieser Nacht dem Krach zum Opfer fällt. So gut, wenn’s wehtut.

Doch jede Reminiszenz an Vergangenes, von Attitüde bis Atonalität, folgt nur einem Endprodukt, dessen Fertigungsprozess den Hörer bei den Ohren durch ebenjene Zerrissenheit zerrt. Die sich im unbestreitbaren Höhepunkt des bisherigen Schaffenswerks Karies nun als Lebend-Beispiel vor unserem geistigen wie geistlosen Auge manifestiert: Traum von D. bohrt sich mit seinem treibenden Bass und seinem stoischen Schlagzeug in unsere Ohren. Hämmert. Hämmert. Hämmert. Weil es kein Entkommen gibt. Zweifelt. Zweifelt. Zweifelt. Weil es auch anders sein könnte. Wiederholt. Wiederholt. Wiederholt. Bis jegliche Gegenwehr in Umkehr verkehrt ist. Bis jeder kleine Teil. Jede Pore. Jede Vene. Jede Narbe sich einzeln vor uns aufseziert. In Stille gewähnt wird. In schizophrener Selbstsicherheit schließlich in Lärm aufgelöst wird. Und alle tanzen.

Terz beiseite.

Doch während man bei Genre-Kollegen im gewollten Scheinbild der Live-Selbstvergessenheit die harten Stunden des Perfektionierens erkennt, glänzen Karies geradezu mit einem perfekten Dilettantismus. Ungeglättet, ungekämmt und uneingenommen werden sie so zu einer der spannendsten Truppen, die dem Terz um den Stuttgarter Untergrund neben der Band, die wir sowieso nicht erwähnen müssen, die Daseinsberechtigung erteilt. Die bald erscheinende EP wird diese Ausnahmestellung nur noch verstärken. Danke dafür. Wir kommen gerne wieder.

Eine photographische Rekonstruktion finden Sie hier