Fragmente

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Das neue Normal.

Human Abfall und die Wege der Extreme.

Alle sind sie da. Die, die wichtig sind. Und die, die wichtig sein wollen. Der Freundeskreis aus zwanzig Leuten, der für diese ganze musikalische Misere in dieser unwohnlichen Wohnstadt verantwortlich ist. Die Jünger ebenjener Stadt, die danach trachten, ihren sonischen, sinnstiftenden Senf zum Stuttgarter Sound-Sammelsurium beizumengen. Und jene, die mit verschränkten Armen und Notizbüchern in der Ecke stehen. Denn die Musikgruppe Human Abfall, der neben dieser einen Band wohl wichtigste musikalische Schwabenexport der letzten zehn Jahre, lädt zur Release-Show der Platte "Form und Zweck" in den Club Schocken. Jener Platte also, die in einem zweiwöchigen, psychotischen Kraftakt in den Ralv Milberg Studios entstanden ist. Und sich mal eben zur bedeutsamsten Platte der deutschen Gitarrenöffentlichkeit emporgetanzt hat. Höher als diese Vorschusslorbeeren ist dementsprechend lediglich die Anspannung, die nun von der Decke tröpfelt, als die Musikgruppe die Empore besteigt.

Die Schuhe glänzen. Die Frisur sitzt. Der Hall fährt durch den Raum. Diese Betonsäule, dieser wadenbeißende Stolperstein, dieses pedantische, hemmungslos grobe Alter Ego namens Flavio Bacon hat seine vorgegossene Position bezogen. Und mit der erwartungsvoll aufbrechenden Bassline des mit Verneigung an Adorno "Knietief im Falschen" betitelten Affronts an die German Angst zerläuft die Intension dieses Raums in der Selbstaufgabe im Glück der "Bequemen Stellung". Zieht die auf der Suche nach einem Versteck unsicher umherschweifenden Blicke auf das goldene, Baconsche Haupt und lässt sie mittels wabernder, treibender Eklektizismus-Eskalationen seines musikalischen Trios gen Dresden fliegen. Sie blicken in die brüllenden Gesichter, die wütenden Augen jener blinden Opfer ihrer eigenen Wut, die den Rechtsruck mit beiden Beinen vorantreiben. Aus den Augen schießen uns Zuckerwatte-Regenbögen entgegen und sie tanzen plötzlich Tango mit radikal-islamistischen Isis-Führern. Was ist geschehen? Der Bacon wartet. Der Bacon schreit. Der Bacon wartet. Der Bacon tanzt. Der Wahnsinn, Kinder, nimmt viele Formen an.

So tendieren die Human Abfallschen Sound-Weihrauchschwenker Schwarz, Stelzel und JFR Moon zwischen furchtbar dickschwadigen Punk-Riffs, bewusstseinserheiternden Surf-Gitarren und unchristlichen Trap-Reminiszenzen. Schaukeln jeden rhythmischen Kniff einlullend, seelenzermalmend wiederholend zwischen unseren Köpfen hin und her. Opfern ihre und unsere Abwehrkräfte zappelnd und selbstvergessen der unerträglich durchdringenden Aura Flavio Bacons. Der sie mit einem hasserfüllten Blick und zyklisch die Seelen zerfräsenden Bell-Lauten sodann ins Säurebad des Minimalismus wirft. Schließlich müssen die Inhalte heute einfach sein. Knackig formuliert. Häppchenweise aufbereitet. Doch die Horsd’œuvre der Musikgruppe Human Abfall bleiben uns im Halse stecken. Denn in ihrer Einfachheit entfaltet sich eine tödliche Komplexität, deren Macht die stumpfe Repetition ist.

Denn die Medien haben zwar vielleicht jeden Inhalt für den dümmsten anzunehmenden Menschen auf ein Spatzengehirn runtergebrochen. Doch die Wahrheit ist alles andere als einfach. Die Wahrheit ist, dass die Welt schlimmer als alles ist, was wir uns unter dem Wort schlimm überhaupt vorstellen können.  Und so schreit und bellt und schreit und bellt und schreit und bellt der Typ da vorne. Stoppt, mittlerweile in der abgesagten Zugabe angekommen, die Musik. Brüllt uns wie ein Derwisch ins Gesicht: "Was bilden Sie sich ein!?" Zappelt. "Was bilden Sie sich ein!?" Deutet. "Was bilden Sie sich ein!?" Beißt die Zähne zusammen. "Was bilden Sie sich ein!?" Fuchtelt. "Was bilden Sie sich ein!?" Und schwingt sein Alter Ego zur Kehrseite der kapitalistisch-konformistisch denkenden Medienhure empor. Zur ungehaltenen, unkontrollierbaren Projektionsfläche all der Idiotie, der Denkfehler, des Irrsinns, des Fanatismus unserer schönen neuen Welt. 

Das nervt. Das macht betroffen. Das kratzt. Das juckt. Das schmerzt. Das muss schmerzen. Denn wenn der Ausnahmezustand Alltag geworden ist, die Angst Überhand gewonnen hat und die Rechtspopulisten ihre Ratten mit Pseudowissenschaft fangen, dann finden wir den Weg zur Normalität nur über die Extreme. Einer Normalität, die autoritären Regimen, Absurditäten und jeglichen Formen von Auswüchsen mittels Denkvermögen und Dialektik, geschärft durch vergangene Fehler, widerstehen kann. Einer Normalität, die keinerlei regressiven Charakter hat. Einer neuen Normalität. 

Einer Normalität, die es nur in unserer Vorstellung gibt. Bisher. Denn wenn die wirtschaftlich durchgetaktete Wohnstadt Stuttgart Gegenbewegungen wie Human Abfall unerwünscht Tür und Tor öffnet und damit die Wege der Extreme freisetzt, dann hält diese vermaledeite Unsäglichkeit zumindest etwas Gutes inne. Denn sie macht es möglich, dass Human Abfall die wichtigste Rockband unserer Zeit sind. Denn mehr Mut, mehr Aktualität, mehr Relevanz besitzt momentan keine andere Band. Es liegt an uns, diese fragile Auflehnung am Leben zu erhalten. 

Eine photographische Rekonstruktion der Schau finden Sie hier. Ein Gespräch mit Herrn Bacon zur Entstehung der Platte "Form und Zweck" lesen Sie hier. Eine Kritik zu selbiger lesen Sie hier. Die Platte besitzen Sie im besten Falle bereits. Wenn nicht, sollten Sie diese hier erstehen.