Algiers und die Kraft von tausend stummen Schreien.
Man spürt ihn. Den Geist der Vergangenheit, als diese vier heimatlosen Seelen, die sich in Atlanta, Georgia zur Rache an der Ungerechtigkeit formierten, die Fackelbühne des Maifeld Derbys 2016 erklimmen. Die Sonne brennt. Die Mäuler verstummen. Die Gesichter stieren. Und aus den Pfützen der Verdrängung, aus der Bruthitze der Brutalität, aus dem Schweißtropfen der Schande, gießt ein treibender Afrobeat die Skulptur eines Sklaven aus dem 17. Jahrhundert, irgendwo aus dem Süden der Vereinigten Staaten. Und er blutet.
Denn das Quartett, das mittlerweile über die halbe Welt verteilt lebt und mit Matt Tong den Ex-Schlagzeuger Bloc Partys rekrutiert hat, verfolgt heute nur ein Ziel: Den Missetaten von damals und den Wiederholungstätern von heute den Spiegel vorzuhalten. So zerschneiden die atonalen, Post-Punk atmenden Riffs Tesches die Haut der Skulptur. So wird sein Kopf von den dumpfen Synthesizern in den Dreck gedrückt. Immer wieder. So verpassen ihm die wilden Schläge des exponierten Bassisten Mahan Schrammen um Schrammen auf die eigene Brust. So schnüren die treibenden Rhythmen Tongs den Strang enger und enger um den Hals. Doch sie lösen sich.
Denn brüllend, weinend, kämpfend, bellend – beinahe scheiternd – doch zitternd an Lautstärke gewinnend, setzt ein lautmalerisches Wimmern an. Aus den dunkelsten Tiefen der Seele. Aus dem tiefroten Sündenpfuhl. Von einem Ort, der vergessen schien, fährt sie uns in die Ohren und gibt der Skulptur eine Stimme. Es ist die Stimme des Gospels. Es ist die Stimme, die sich Michael Jacksons Trademarks bedient. Es ist die Stimme, die allen verstummten Schreien eine Bühne schafft.
Es ist die Stimme des Aufruhrs. Des Tumults. Der Revolution. Mit der Rhetorik des Southern Gothic, der Intelligenz eines Karl Marx, des Feingefühls Martin Luther Kings und des Tatendrangs Malcolm X' intoniert Franklin James Fisher diese Lautmalerei seelenverloren tanzend und theatralisch zu Knie fallend. Während seine Mitstreiter zwischen ausdrucksvollem Gestikulieren und introspektivem Starren pendeln. Und mittels ihrer unglaublich kraftvollen Musik aus der Mitte ihrer Gemeinschaft innewohnenden Gegensätze einen Elfenbeinturm aus Philosophie und Religion, aus Wissenschaft und Atheismus errichten. Der jedoch nicht tatenlos zusieht, sondern politisch aktiv wird. Ganz im Gegenteil das Mannheimsche Publikum.
Seine schweigenden Argusaugen lasten träge auf dem Geschehen, während zaghaft in die Hände geklatscht wird. Vielleicht weil diese Auseinandersetzung betroffen macht. Doch sie muss betroffen machen. Denn nur, wer die Fehler der Vergangenheit kennt, schafft es, sie nicht zu wiederholen. Eine Beschäftigung mit selbiger sollte für uns alle somit Pflicht sein. Mit Algiers sowieso. Denn diese Truppe ist musikalisch wie inhaltlich eine der spannendsten der letzten Jahre, nein Jahrzehnte. Dass man dies für den Großteil des heutigen Publikums nicht behaupten kann, ist genauso traurige Realität wie die Missetaten von damals.
Eine photographische Rekonstruktion der Schau finden Sie hier. Dieser Artikel ist Teil unserer Sonderkundmachung zum Maifeld Derby 2016. Mehr Artikel dazu finden Sie hier.