Fragmente

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Entzweit die Zeit.

Der Lieder des Marmorsaals erster Teil. Mit Bajka, John Joseph Brill und Walls & Birds. 

Es ist doch immer das Gleiche. Dunkler, immer dunkler wird die Welt. Die Zeit des Aufschwungs, auch wenn er nur in undurchsichtigen Blasen bestand, ist wieder mal vorbei. Die Tyrannei der sich wiederholenden Geschichte, die sich nie etwas Besseres einfallen lässt, als in absehbaren Abständen das Chaos zu zeitigen, hat sich dem Vernehmen nach zurzeit erneut in den Inhalt ebenjenes Nomens verschossen. Alles droht zu brechen. Den Bach runterzugehen. Sie kennen das. Wir sind schließlich selbst dafür verantwortlich. Doch die Dunkelheit, geschätzte Freunde, hat heute ein Loch. Ein kleiner Durchschlupf in eine andere Zeitrechnung. In eine Welt des Überschusses, der Opulenz, der Pracht und der Prasserei. Die jedoch ebenfalls alsbald vom Chaos heimgesucht werden sollte. Welch vollkommen irrelevanter Zufall, denkt man und tritt mit einem letzten zynischen Seufzer gen Dunkelheit ein.

Man findet sich wieder im Stuttgarter Weißenburgpark des Jahres 1913. Namentlich in einem Kleinod des mit "Dr. Thomsons Waschpulver Marke Schwan" schweinereich gewordenen Antikenforschers Ernst Sieglin. Jener Herr ließ von den damals besten Architekten und Dekorateuren des Landes ein Teehaus für die Damen, einen Tennisplatz für die Herren, und darunter einen Marmorsaal für alle Freunde des gepflegten Umtrunks, namentlich bis zur Besinnungslosigkeit, nach getanem Lustwandel, erbauen. Schlicht, weil er es konnte. An jenem Sinnbild des guten deutschen Patriarchats soll heute die wohlständische Vergangenheit mit der verschwendeten Zukunft kollidieren und ein schwarzes Loch in unsere Wahrnehmung der Kurz- wie Langeweile reißen. Denn jener Marmorsaal ist Austragungsort der "Songs of Marble Hall", einer Veranstaltungsreihe des Art meets Art e.V., der mit musikalischen Gustostücken gleichsam Entschleunigung wie Begegnungen konversationeller und nonkonformistischer Natur verspricht.

Der Blick schweift durch den Saal und stolpert über Ambivalenz. Ein mit herrschaftlich sich verjüngenden viereckigen Marmorfliesen geformter Boden erhebt sich über das Erdenreich. Er gebiert Raum für an beiden Schmalseiten gelegene, trepphaft erhöhte Hohlräume, gesäumt von Steinfiguren, die jeweils mit stilvollen Arabesken und altertümlichen Porträts bemalte Halbkreise auf ihren Schultern tragen. An seinen Breitseiten ranken unerschütterliche, ästhetisch gearbeitete Säulen gen Himmelreich. Sie wechseln sich ab mit von goldenen Bronzereliefs gesäumten, deckenhohen Holztüren. Deren gold durchwirkte Fenster den Blick von außen auf die in seinem Inneren sich befindende Antithese auf sich selbst erlauben. Denn nebst zwei geleckten Bars für allerlei Getränke für Jedermanns alkoholischen Gusto finden sich dort ein DJ-Set, ein Konzertflügel, Hors d'Oeuvres, Sitzsäcke und zum Sitzen umfunktionierte Europaletten, während eine krude Mischung aus schick angezogenen, gebräunten Menschen der Hautevolee versucht, dem bleichen Pöbel der Stuttgarter Musiker um Tristan Reverb und JFR Moon und ihrer Musikberichterstatter nicht zu nahe zu kommen. Sie sind ausgerichtet gen einen der beiden Hohlräume, wo diverse Instrumente darauf warten, bedient zu werden. Man verhält sich ruhig und begibt sich mit einer Mischung aus Skepsis und Wohlwollen in die Meute und ihre alles gutheißende Stimmung.

An dieser Stelle würden ein paar wohlwollende Worte über die Künstlerin Bajka folgen. Hätte ihr von zwar zu verzeihender Nervosität aber keineswegs zu verkraftender Unvollständigkeit geprägtes Set nicht jeden Funken von Talent ad absurdum geführt. Denn dies schlummert zweifellos in dieser Dame. Doch die Augen und Ohren des Marmorsaals bekommen nur einen verkrampften kleinen Ausbruch davon zum Fraß vorgeworfen. Der Applaus zeugt vom positiven Willen des Publikums. Man ist versucht zu sagen; er war kaum verdient.

John Joseph Brill macht somit den wahren Anfang. Ein Hüne, mit den Haaren der Medusa und dem Barte des Zeus stemmt sich mit kontrastreicher Wucht und überbordendem Bariton gegen den engelsgleichen Marmorsaal. Ein zerrissener Dämon, der das Hell des Himmels beschwärzt. Augenscheinlich geschult von zahlreichen Shows im Vereinigten Königreich der geteilten Meinungen über die Europäische Union und in ebenjener, stellt der Exil-Liverpooler Lieder von Melancholie, gefundener Liebe, Sex und wieder verlorener Liebe in den Raum. Strahlt mit Person und Stimme Wärme aus und erntet Applaus. Zugegeben, die Verneigungen vor Cohen und Anleihen The Nationals sind keineswegs originell. Doch die Selbstsicherheit, die wohl aus den Londoner Jahren Brills mit Burning Beard herrührt, tut der Professionalität des Abends nach dem Fiasko Bajkas gut. So bringt der Hüne seine Performance und sein Selbst dort am nächsten zur Decke des Marmorsaals, wo er seinem Bariton Geschrei und seiner Körperhaltung Entspannung entlockt. Das Neil Young Cover von "Helpless" tut sein Übriges zu beidem.

Während das Geklatsche zur letzten Umbaupause erlischt, schält sich aus unserer Magengegend ein Gefühl empor in unseren Cortex zu einem Gedanken. An dieser Fassade stimmt doch etwas nicht. Der Schönheit zu trauen ist seit jeher ein Trugschluss-

-Doch eine Note durchschneidet unser Denken. Der neben dem Hohlraum vergessene Konzertflügel erfreut sich der Gesellschaft einer jungen Dame. Sie zieht die Blicke und Lauscher auf sich. Befiehlt sie nun mehr schwebend als gehend gen Bühnen-Hohlraum. Ein schlaksiger Zirkusdirektor mit vor Glückseligkeit überquellendem Gesicht tritt an ihre Seite und stellt mit Worten, die weder Sinn haben noch je machen werden, die Seichtheit der Dinge vor. Die junge Dame haucht nebst liebreizend unverhohlener Unsicherheit ein voluminöses Lana del Rey-Cover aus ihrer Mitte und der Zirkusdirektor entledigt sich seiner Garderobe. Seine zweite Wahl fällt auf ein schwarzes Kleid. Zwei weitere Herren schlaksigen Typus' tragen ihre Oberlippenbärte an seine Seite. Der Direktor greift zur Gitarre. Die Elfe zum Mikrofon. Die Herren in Tasten wie Schlagzeugstöcke. Und Walls & Birds stehen in Position.

Eine Ouvertüre führt uns in eine Traumwelt. In der Synthies neben knappen Bikinis einen All-Inclusive Pool säumen und den darauf folgenden verdrogten Nächten Sinnlichkeit und Melancholie verpassen. Doch die gehauchte Kopfstimme des sich auf Zehen befindlichen Direktors will mit uns die Neue Deutsche Welle über die Schickeria gen Belo Horizonte reiten. Die Oberlippenbärte reißen etwas Jazz und Dada aus der Zeit und im Hohlraum ruft ein Promoter an, der so gerne eine Show buchen würde. Walls & Birds aus diesem Berlin sind zerbrochene Kinder der Ikonographie des perfekten Pop-Songs, der nie geschrieben wird. Und füllen den Marmorsaal derweil mit allerlei Identitäten. Mit der Verkrampfung des Deutschtums. Mit der Leichtigkeit der pinken Kaugummiblase der Vereinigten Staaten. Mit der Imitation der einen der andren. Das alles mit einem unglaublichen Gespür für Genre-Merkmale wie für zärtliche Ansagen und Melodien. Und der Alt-Stimme der Elfin, die sich so wundervoll am Piepsen des Direktors reibt. Die Zeit, sie vergeht hier nicht. Sie flieht, manchmal. Sie stoppt dann wieder. Um zu lachen. Über unsere Idiotie. Man möchte ihr den Arsch versohlen.

Und während Walls & Birds, die sich wirklich jeder einmal angehört haben sollte, in unserer Wahrnehmung immer stiller werden, ereilt uns unser Gedanke von vorhin. Was diesem Abend fehlt, ist das Chaos, das sich die 24 Euro teure Abendkarte heute nicht leisten konnte. Denn der beste Künstler bleibt heute der Marmorsaal selbst. Und ihm fehlt jegliche Ecke. Jegliche Kante. Man möchte ihn besudeln. Irgendwas muss brennen. Gegen eine Säule pinkeln. Irgendwas muss wehtun. Die viereckigen Marmorfliesen in Dreiecke verwandeln. Die Holztüren eintreten. Namentlich die Realität einlassen. Sonst werden die Damen und Herren da drinnen zu ebenjenen von damals: In weltfremder Opulenz dahinsiechende Luxusseelen, die ihre Kraft, etwas zu verändern, in teurem Alkohol wegspülen.

Das Konzept der "Songs of Marble Hall", bietet diese Möglichkeit, die das Team von Art meets Art zweifelsohne auf dem planenden Papier hat. So steht bereits der Termin für einen weiteren dieser außergewöhnlichen Abende in nostalgisch-zwiespältiger Kulisse: Der zweite Oktober. Wärmstens empfehlen wir demnach das Beiwohnen – und das Mitbringen des Chaos. Photographische Rekonstruktionen der Schauen von Walls & Birds und John Joseph Brill erreichen Sie per Klick.