Fragmente

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Is jo wurscht.

Voodoo Jürgens und Der Nino aus Wien im Merlin Stuttgart.

Irgendwie hat es etwas perfides. Warum, dazu werden wir noch kommen. Auf jeden Fall fühlt man sich geradezu selbst ein bisschen schmutzig, wenn man den bitterbös ehrlichen, weil genauso schmuddeligen, anrüchigen und gewalttätigen – wie das Leben eben so ist – Geschichten Voodoo Jürgens lauscht. Denn genau das ist er: Ein G'schichtldrucker. Im reinen Wortsinne versteht sich, ohne die wie im Wienerischen übliche negative Konnotation. Das nur am Rande von einem waschechten Meidlinger (12. Wiener Gemeindebezirk, oida). 

Voodoo Jürgens teilt sich die heutige Schau im Merlin Stuttgart im Rahmen des Pop Freaks Festivals mit Der Nino aus Wien. Macht Sinn, schließlich gelten die beiden als die bekannteren Vertreter des modernen Wienerlieds. Ein in Singer-/Songwriter-Manier vorgetragenes Lied von einem Wiener über Wiener. Dabei ist nur einer von ihnen ein echter Sie wissen schon. Denn David Öllerer alias Voodoo Jürgens ist eigentlich aus Tulln an der Donau. Zwanzig Kilometer nordwärts also. Und ist damit als "Zugereister" der wahre Wiener der beiden. Sei's drum.

Voodoo und Der Nino aus Wien stehen vor ausverkauftem Haus. Das jedem Wiener mit in die Wiege gelegte "Is jo wurscht" sagen schon ihre Mienen. Sie bestreiten ihre beiden Sets alternierend: Erst der eine die erste Hälfte, dann der andere. Dann wieder von vorn. "Habt's es verstanden?" Fragt Nino Mandl, als er die Chose zum ersten Mal erklärt. Er eröffnet die Doppler-Flasche in Konzertform. Sein Zynismus, seine getragene Art zu sprechen, seine nasale Stimme, die teils komplexeren, teils als Cover oder Verneigung angelegten Kompositionen werden sofort mit Schmunzeln und lang anhaltendem Applaus angenommen.

Klar, denn, was für Wiener halblustig weil bekannt ist – der weiche Wiener Dialekt und trockene Schmäh – funktionieren natürlich in Deutschland, dem man nicht gerade die Weisheit in Sachen Humor nachsagt, grandios. Voodoo Jürgens legt nun einen Gang zu und verkörpert den Ur-Wiener in all seiner Glorie: Viel zu großer Anzug, Gold- und Silberketterl, Voki und die Lederschuhe für schöne Anlässe. Dazu der wirklich tiefe Wiener Dialekt aus verschiednsten Bezirken der Stadt. Bis auf Schönbrunn – weil da verschlägt's den Arbeiterbuam mit der abgebrochenen Konditorlehre nicht hin. Denn da kommt er her und daraus schöpft er seine Geschichten: Aus dem Leben im Gemeindebau. Dem Trankln in de Dschumsn. Vom Willy und seiner Tochter, die sich den goldenen Schuss gesetzt hat.

Und das tut er mit einer eindrucksvoll eigentümlichen Art. Mit nervösem Gezapple und wildem Gestikulieren. Schizophrenem Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Personen. Mit zwischen geschlossen und blinzelnd changierenden Augenlidern. Und natürlich mit seiner sudernd hohen, sich nahezu überschlagenden Stimme. Da geht der Nino schon fast unter. Das alles trägt dazu bei, dass man Voodoo jede Zeile irgendwie dann doch abkauft. Jede Story dieses Wiener Strizzis glauben kann. Oder mit ein paar Glaserln Wein glauben will. Lediglich die aus dem Wiener Dialekt-Wörterbuch entwendeten Begriffe (Tschuck aufs Guck sagt wirklich niemand mehr) lassen einen echten Wiener für ein paar Sekunden an der Glaubwürdigkeit dieses Herren zweifeln. 

Doch sie nehmen wenig von der Drastik der von beiden Songschreibern erzählten Geschichten. Von ausgespannten Frauen. Von Gewalt in sozialen Wohnbau-Einrichtungen. Von der scheiß Hockn (Arbeit). Von unterdrückten, ersoffenen, weggespritzten Gefühlen. Und natürlich vom in Wien immer dazugehörenden Ende. Jeder im Publikum kann sie irgendwie nachempfinden. Jeder kennt die Bedrängnis, die die Kehle zuschnürt. Die nach Zerstreuung verlangt. Egal welcher Form. Hierin liegt die große Stärke dieser beiden Barden. Sie schaffen Identifikationsflächen im Sicherheitsrahmen. 

Genau deswegen liegen sich die beiden im feinen Zwirn nach erneutem Wechsel dann auch in den Armen. Musizieren und singen gemeinsam. Bedanken sich nach bald drei Stunden Show beim Publikum. Den Applaus haben sie sich zweifelsohne verdient.

Womit wir zum, wie angekündigten, perfiden Teil dieser Schau kommen. Die Renaissance, respektive das Wiedererstarken des Wienerlieds und die zwangsweise mitschwingenden Quentchen Schwermuts, schwarzen Humors, Zynismus' und, respektive oder, Morbidität mögen zwar unterhaltsam sein. Doch ist das Aufwärmen der Vergangenheit eben immer nur das: Aufgewärmt. Klar, das Bedienen an dem, was gewesen ist, ist ein völlig legitimer und ohnehin unvermeidbarer Mechanismus der Popmusik. So stehen Helmut Qualtinger, André Heller, Sigi Maron oder auch der nur noch Weinflecken hinterlassende Schatten seiner selbst Wolfgang Ambros mehrmals Pate.

Doch wo ist denn der Pioniergeist, der unter anderem von Wienern wie Yung Hurn, der Neues in das Amalgam aus Gealtertem, Bekanntem und eigenem Gusto mischt? Wo ist der Kniff, der das alte Wienerlied wirklich in die Moderne bugsiert? Das unsägliche Präfix "post" hinzufügt, das auch allen klarmacht, das mit dieser Tradition jetzt alles möglich ist? Gerade in dieser Stadt, die eh das Problem hat, die eigenen nostalgischen Erinnerungen in zu vielen Glaserln G'spritzten zu ertrinken. Und dabei unterzugehen. Ein Kollege schreibt: "Man sollte diese beiden [...] nicht falsch verstehen als Poprevanchisten. [...] Es ist vielmehr so, dass ihre Songs Leben beschreiben, die so heute immer noch gelebt werden." Mag sein. Aber die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten  – ganz zu schweigen von den medialen Gegebenheiten – haben sich in der Zwischenzeit zum Glück weiterentwickelt.

Die Erfüllung dieses Wunsches der Weiterentwicklung an die Künstler bleibt an diesem Abend somit eine nicht verkaufte Extrawurst. Das Publikum denkt sich derweil "Is jo wurscht". Die beiden sympathischen Botschafter aus der Stadt der Toten werden mit offenen Armen und weinseligen Herzen aufgenommen. 

Photographische Rekonstruktionen der Schauen von Der Nino aus Wien und Voodoo Jürgens erreichen Sie per Klick. Sie waren jeweils Teil des Pop Freaks Festivals im Merlin StuttgartWir empfehlen das Beiwohnen bei einer oder mehrerer der im Zuge jener Festivität geplanten Shows. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören.