Fragmente

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Der unmögliche Zustand.

Hendrik Otremba liest "Über uns der Schaum" in der Villa Merkel. Begleitet von Constantin John.

Hendrik Otremba.

Worte schallen durch den Raum. Sie schweben erst. Zitternd. Doch langsam gewinnen sie an Kraft, an Autonomie. Ihre ursprüngliche Bedeutung, ihren Zweck hinter sich zu lassen. Einer anderen Bestimmung zu folgen. Kraftvoll erobern sie nun den Raum. Setzen sich in seinen Ecken fest. In allen Ecken dieser Welt. Rauben den Atem. Verdunkeln das Licht. Machen die Gefühle der Anwesenden zu Marionetten. Machen die Anwesenden selbst zu Marionetten. Sie wirken, sie klingen, sie leben. Beängstigend, bedrohlich, berauscht. Schlängeln sich kokettierend durch dieses Wirkungsfeld. Durch ihr Wirkungsfeld. Rhythmisch, rau, repetitiv. Und unerbittlich schlagen sie zu. 

Entführen uns in eine fremde, dystopische Welt. Nein, in Bilder von dieser Welt. Wie Erinnerungen, die langsam immer bleicher werden. Wie Polaroids, die anstatt scharf, langsam unscharf werden. Wie Fragmente verloren gegangener Geschichten. Die Worte tauchen uns ein in Fieberträume, ausgelöst von Trauer, Verzweiflung und fiktiven Drogen. Lassen uns den Schrecken eines Mordes miterleben. Lassen uns Verbitterung, Sucht, Rausch und Liebe beinahe am eigenen Leib spüren. Lassen uns Dinge erleben, die wir uns nicht vorstellen können. Sie lassen uns. Sie erlauben es uns. Weil Hendrik Otremba uns erlaubt, teilzuhaben.

"Über uns der Schaum" heißt der Debütromans des Tausendsassas, dessen zahlreiche Nebenbeschäftigungen den Lesern dieses Magazins ohnehin bekannt sind. Im März im Verbrecher Verlag erschienen, zierten der Buchtitel nebst des charakterstarken Konterfei Otrembas in nur wenigen Wochen so gut wie alle Medien der hiesigen Intelligenzija, die im entferntesten mit Musik und Literatur zu tun haben. Die grobe Handlung lässt sich als die waghalsige Flucht zweier verlorener Seelen in einer dystopischen Welt umreißen. Dabei sprengt der Roman die Grenzen seiner eigenen Kategorie. Lässt sich, obwohl uns der Verlag den Begriff "Neo Noir" an die schreibenden Hände geben will, kaum mit Genres beschreiben. Ja, lässt sich gar nicht als streng-stringentes Narrativ bezeichnen. Warum also findet dieses 280-Seiten-starke Unbeschreibliche derartigen Anklang?

Zurück im Raum der Willkür der Worte. Dort, hinter den im Stile der Neurenaissance errichteten Mauern und Säulen der Villa Merkel. Dort, nach dem prächtigen Portikus. Inmitten eines imposanten Atriums. Da sitzt Otremba, versunken in sich selbst. Um ihn herum hängt die Kunst Allan Kaprows. Unter ihm zeichnen ästhetisch arrangierte Bodenfliesen Ornamente. Zu seiner Rechten bedient Constantin John alias Persona die Knöpfe unserer sonischen Gefühlslage. Er untermalt, improvisierend, die Laute, die aus Otrembas Munde kommen, mit bedächtig gestrickten Klangteppichen. Wellenförmig pulsierend, unberechenbar ausschlagend. Genau wie die Termini, Begriffe, Expressionen, mit denen Otremba experimentiert hat. Und die er nun kontrolliert.

Constantin John alias Persona.

Denn der Einblick, den Otremba in sein Debüt gibt, zeugt eindrucksvoll von der wahren Stärke des Romans. "Über uns der Schaum" ist nicht das große Narrativ. Er ist kein klassischer Detektiv-Roman. Er ist keine Science-Fiction-Dystopie. Er ist kein Krimi. Er ist nicht die Neuerfindung der deutschsprachigen Literatur. Er ist zwar all das, in Teilen. Doch der Roman verfolgt ein anderes Ziel. Losgelöst von der klassischen Narration. Fokussiert auf die Interaktion mit dem Menschen.

Denn "Über uns der Schaum" beschreibt Zustände des Menschseins. Eindringlich, drastisch und unglaublich bildhaft. Wenn Otremba Zweifel, Ekstase oder Verzweiflung beschreibt, fühlt man jene Gefühle nahezu am eigenen Leib. Wenn er die Umgebung der irgendwo in der Zukunft angesiedelten Erzählung beschreibt, entsteht sie wie ein Bild vor dem inneren Auge. Ein Bild, gemalt aus Worten. Als wäre es längst da gewesen und musste von ihm nur mehr zu Papier gebracht werden. 

Dieser febrile, hitzige Parforce-Ritt zwischen Zuständen opfert dem Bild bisweilen die Logik. Öffnet dem Abstrakten die Tür. Springt zwischen Innerem Monolog und Road Novel. Zwischen Gedicht und Coming-of-Age. Zwischen Love Story und Detektivgeschichte. Dekonstruiert mittels dem Entsagen der logischen Zweckgebundenheit des Wortes Genrebegriffe. Kreiert etwas kategorisch Unbeschreibliches, doch stets in menschlichen Abgründen verhaftetes. Doch genau diese unmöglichen, nicht unter konventionellen Genrebegriffen einzuordnenden Bilder sind es, die etwas urmenschliches erzeugen. Etwas, das jeder spüren kann. Etwas, das unmöglich ist, nicht zu spüren. Wer braucht da noch Beschreibungen, Kategorien, Genres?

Eine photographische Rekonstruktion der Lesung von Hendrik Otremba erreichen Sie per Klick. Sein Debütroman "Über uns der Schaum" ist im Verbrecher Verlag erschienen. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Naturgemäß auch jenen der jüngsten Platte "Jalousie". Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören. 

Photographien: Isabel Thalhäuser.