Fragmente

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Strapazen und Romantik.

Karies live im Goldmark's.

Mauern trennen Räume oder begrenzen. Mit ihnen geht nicht selten eine ordnende Funktion einher, die Schutz vor Gewalt, Kälte und Hitze bietet. Machtverhältnisse symbolisieren sich durch ihr Erscheinen. Eins sind sie dabei immer: stabil. Gesichert selbst in der Dunkelheit. Zumindest für den Augenblick.

Langsam füllt sich der noch triste Raum. Trist deshalb, weil sich so gut wie jedermann noch vor dem Club aufhält. Nach dem Warten folgt, warum das Kollektiv heute hier ist. Vor uns zeigt sich nun endlich das bleiche Herz der Stuttgarter Post Punk Szene. In gesättigtem Schwarz stehen sie magnetisierend vor uns. Wie eine Mauer, die einen Kreis bildet. Majestätisch vor rotem Samt. Im festen Gefüge und dadurch Beanspruchungen aushaltend. Authentisch. Ungeschönt. Unverfälscht. Hoffnungsvoll. Nicht Kalt. Und doch dramatisch. Vor uns steht die Band Karies.

Die erste vibrierende Szenerie des ersten Akts zeigt sich im Gewand eines Schattentheaters. Das wenige Licht im Club fordert zum Tanz. Es apostrophiert die ersten glanzvollen Klänge, die von der Bühne zum Publikum rauschen. Es bleibt keine Zeit für große Reden. Eben „Keine Zeit für Zärtlichkeit“. Resistent gegen das was auch kommen wird, implodieren Karies vor uns. Schießen aus dem Hintergrund. Bleiben bleischwer am Boden. Durchdringen den Raum. Die Trommelschläge wirken dabei wie Kugelblitze, die den Puls jedes Einzelnen galoppierend zum Funkenschein der Dunkelheit zwingen. Sie fragen nach Einheiten und Perversionen. Mit dem Kinn im Nacken umgreifen sie die Meute. Mit ihren Moll-Tönen suchen sie nach Grenzen und stoßen dabei auf Ecken. Gerunzelte Stirne verbildlichen, was mit messerscharfem Verstand ein bohrendes Überlegen nach der aphoristischen Auseinandersetzung mit sich selbst entwickelt. Die Antwort ist Frage zugleich: „Kante! Hast du jemals Kante gezeigt?“

Wegschauen geht hier nicht. Der Körper will mehr. Will die ganze Emotion durchdringen. Will jede einzelne Sekunde davon abspeichern. Will verstehen, was es ist, das Leid nicht nur ertragen lernt, sondern genussvoll zu lieben versteht. Heute manifestiert sich das Verstehen als vier Personen: Benjamin Schröter, Max Nosek, Jan Rumpela und Kevin Kuhn.

Diverse Sprünge durch die Schriftzeilen der Feuilletons dieses Landes haben Karies nichts an ihrer Schroffheit genommen. Sie schreien auf der Bühne, sie gehören zusammen und sind doch fremd. Denn jeder einzelne ist ganz im Moment seines Ichs. Über allem thront das Ego des Einzelnen. Dennoch ist diese Aufhebung der Balance nicht negativ konnotiert. Sie formt vielmehr die Ruppigkeit und Rauheit, die Karies zu dem machen, was sie sind und verleiht der Struktur der Band ihren Ausdruck. Animus und Anima stehen sich vor weinroter Farbe gegenüber, doch es ist kein Kampf. Vielmehr noch: es ist eine poetische Weise, aktiv zu werden. Lebendig zu sein, Kontra zu geben. Brodelnd und flammend. Masochistisch zeigen sie die Risse an der spröden Haut der Dinge auf. Karies reflektieren die normativen, glatten und ordentlichen Elemente unserer Conditio Humana und verdichten ihre Abgründe und Absurditäten zu einer Strapaze in Schwarz.

Wie Jäger bewegen sie sich über die Bühne, schleichen aus dem Hinterhalt und schießen mit lautem Klang in die Menge. Dabei kommt es an diesem Abend zu einer Aneignung dessen, was sich der Mensch eigentlich längst zu Eigen gemacht hat: der Romantik. „Einheiten“ bildet den Klang dazu. „Ich will dass du verstehst, warum wir uns nicht verstehen“, hallt es durch den Raum. Die Stimmung dreht sich. „Abstrakte Herzen“ schweben lyrisch durch die Luft. Das Schwarz wird durch die Klarheit der Emotionen zu einem Ort der Leidenschaft. Verwandelt sich in einen Sehnsuchtsort. Durstende Schreie des Verderbens verzeihen nicht. Elektrisierende Synthesizer bilden einen harten Kontrast zwischen Drums und Bass. Melodisch verführen sie uns zu Pausen und zur Stille. Eine heroisch veranschaulichte süße Lüge.

Diese Form von Romantik schmeckt nach Salz. Brennt in den Augen und auf der Haut. Doch sie muss brennen. Denn Realität ist keine Straße aus Zucker. Und meist verbirgt sie sich hinter festem Mauerwerk. Was bleibt ist die nie sterbende Idee einer paradiesischen Vorstellung einer besseren Zukunft. Karies liefern die Hoffnung für ein Leben unter freien Emotionen. Ohne steinerne Mauern. Ohne der Ordnung durch Machtverhältnisse. Ohne Schutz vor Gewalt und Kälte. Denn Auseinandersetzung ist wichtig. Der Appell richtet sich an das tote Herz. Das irgendwann doch wieder lieben lernt. Wenn man an Romantik glaubt.

Eine photographische Rekonstruktion der Schau finden Sie hier. "Es geht sich aus" ist bei This Charming Man Records erschienen. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Eine Besprechung der Platte lesen Sie hier. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören.

Photographien: Isabel Thalhäuser.