Fragmente

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Kunst und Konflikt.

Peaches auf der Documenta 14.

Wein und die ästhetische Ähnlichkeit zu einer Kirche. Fragmente der Wirklichkeit verlieren sich im schwarzen Glanz der Nacht. Behelligt werden nur die narrativen Umrisse tragender Säulen. Säulen der Wirklichkeit. Säulen der Magie. Säulen, die wenig heiter scheinen. Säulen, die den Umriss einer exemplarischen Kunst aufzeigen. Wir befinden uns in der Weinkirche in Kassel, in der dieser Tage die Weltkunstausstellung beherbergt wird. Die documenta 14. Kuratiert wird neben den kontroversen Themen, eines Wegweisers für die Zukunft auch die Musik. Und damit entsteht auch der Grund, warum wir heute hier sind. Scheint doch kaum etwas musikalische Kunst und zeitgenössischen Themen auf unterschiedlichen Medien zu trennen. Denn beide dokumentieren Emotionen.

Die Augen gleiten über die noch leere Tanzfläche. Ein Blick auf die Uhr verrät: Verzögerung. Ungeduld. Wir befinden uns in Kassel, das an Skurrilität kaum zu übertreffen ist. Denn es wirkt, als steckte es in der Vergangenheit fest. Doch dies ist hier Realität. Gefühle einer anderen Zeit entstehen und der innere Monolog fordert die Reminiszenz der Jugendjahre zum Tanz auf. Die Erinnerung ist bemüht, sich selbst zu verneinen. Doch sie verliert den Kampf. Sie ertrinkt in purer Leidenschaft. Denn Peaches wird heute hier sein. Peaches, das steht für Punk, Glitzer und radikalen, provokativen Feminismus. Wir warten. Noch. Doch dann schreitet sie endlich zu uns auf die Bühne, die vielmehr glamouröses Theater ist. Auf ihrem Kopf trägt sie das weibliche Geschlecht als Krone, der haarige, schwarze Kunsthaarpelz mutet an wie ein majestätischer Umhang des Freigeistes. „Feel free, come with me!“ ruft sie und legt sich lasziv auf das DJ-Pult. Und unter den Augen der internationalen Besucher der Documenta formiert sie diesen Pult eigenmächtig zum Altar um, an dem sie predigt. An ihren Worten bleibt kein Zweifel.

Denn es folgt eine geradezu märchenhafte Prozession. Rhythmischer Elektro-Pop wird über dreistem Hip-Hop kraftvoll zum Takt des Kampfes mit dem eigenen Ich. Das unsichere Vertrauen an das Selbst wird zur selbstsicheren Leichtigkeit. Und die Rolle einer Frau einzunehmen wird hier zum schamlosen Gefühl der Akzeptanz. Und letztlich zur Freiheit. Der Song „Dick in the Air“, verkörpert dies wie kein anderer. Dabei steht unsere Majestät halb entkleidet vor uns. Pickt sich verschwitzt einige Seelen aus der Masse und gibt ihnen somit noch mehr Kraft, nein, den Auftrag, sich selbst zu lieben, ohne Fragen zu stellen. Zumindest nicht hier, an diesem heiligen Ort.

Sie ist älter geworden und so auch an Erfahrung reicher, denn Peaches hat sich in der letzten Dekade fast ausschließlich in Kulturinstitutionen gezeigt. Zuletzt im Haus der Kulturen der Welt zu Berlin. Leicht ist das nicht gerade. Bequem ist es auch nicht. Doch faul oder leidend ist Peaches nie gewesen. Denn ihre Ziele sind größer als reines Entertainment. Sie steht für die Überwindung der geltenden Ideale. So entledigt sie sich, unserer Gesellschaft vorpreschend, ihren Klamotten und damit gleich der Konventionen. Losgelöst, befreit und nackt zeigt sich, wonach die Künstlerin strebt: Nach reiner, echter, unverfälschter Schönheit. Ein neuer Glanz entsteht. Ein Schimmer, der den Weltschmerz für kurze Zeit vergessen lässt und dorthin zu reflektieren versucht, wo das Gefühl von Trauer und Melancholie über die Unzulänglichkeit von bestehenden Verhältnissen zum Optimismus führt. Peaches’ klarer Gesang führt für kurze Momente zur Flucht aus der Welt. Einer Flucht, die in Erkenntnis mündet: „Crap it! My body, my business!“

Dabei ist sie nicht bequem. Nicht durchgeplant. Nicht strukturiert. Sie handelt willkürlich. Agiert mit dem Publikum und findet inmitten des Chaos ihre ganz persönlichen Lösungen gegen das Jetzt. Es ist kein stiller Protest. Es ist eine laute, unbequeme Wahrheit. Sie fordert, Missstände einzugestehen und für das kollektive Bewusstsein zu verbessern. Denn die Realität hat wenig Märchenhaftes an sich. Doch umso härter muss der Kampf sein: „Fuck the pain away“ tönt es nun durch die feucht-verschwitzten Hallen. Und sie entlässt uns verzaubert und verstört in die scharfe Nacht. Der Widerstand, ist er denn nichts mehr als eine märchenhafte Manie?

Nein, vielmehr ist es diese Magie, dieser fantastische Glaube an eine bessere Zukunft, der Hoffnung gibt. Peaches navigiert mit ihrer Form des elektronischen Punk zum gesellschaftlichen Kontinuum der Nonchalance und sucht dabei stets zu betören. Um in dieser Traumwelt nach der kollektiven Lösung sozialer Konflikte zu suchen. Denn der wahre Geist der Kunst wählt immer den Konflikt statt der Lethargie. Dabei bricht sie die asphaltierten Strukturen des Hier und des Jetzt. Ihr Medium bleibt dabei stets die Autokratie des künstlerischen Selbst.