Fragmente

View Original

Freiheit im Lärm.

Gewalt live am Maifeld Derby 2017.

"Patrick Wagner Superstar", meint eine dieser verlorenen Seelen vor dem Brückenawardzelt. Das Lächeln und Nicken der anderen toten Herzen affirmiert seinen kurzen Ausbruch. Darunter diverse Musiker, die die Bühnen dieses Festivals bereits bespielt haben. Der Zeiger nähert sich gerade der Zwei Uhr-Marke. Es ist finster geworden. Doch die Hitze wabert über dem Kies, auf dem sich die Kongregation des Krachs einfindet. Es stinkt nach verbrauchtem Fett von mittlerweile zurückgelassenen Imbisstrucks. Irgendwo spielt eine namhafte elektronische Band. Den Bass hört man noch entfernt. Genau wie die juchzenden Stimmen. Doch für die Wartenden ist das alles nicht wichtig. Wichtig ist, was noch kommt. Das Warten spannt die ohnehin bereits gestrafften Muskeln noch mehr an. Immer mehr Blicke auf die Uhren. Am Handgelenk. Am Smartphone. Stieren in die Dunkelheit. Dann endlich kommt er, der Lärm. Er tönt aus dem Zelt. Kalt, durchdringend, schneidend. Mitten durch die Hitze der Nacht. Der Eingang geht auf, die Meute strömt hinein. Die Bühne ist leer. 

Regelmäßigen Leserinnen und Lesern dieses Magazins muss man nichts mehr über die Geschichte von Gewalt erzählen. Nichts mehr darüber, wie Patrick Wagner mit Band, Label und Ehe gescheitert ist, um schlussendlich doch wieder bei der Musik zu landen. Nichts mehr darüber, dass Gewalt kein Album planen und keine exklusiven, also einengenden Deals mit Labels. Sondern immer dann eine 7-Inch veröffentlichen, sobald ein Song da ist. Nichts mehr darüber, dass statt einem Schlagzeuger einfach DM1 den Beat liefert. Nichts mehr darüber, dass Gewalt ihre Songs am liebsten ohne Probe live performen. Die einzige Unbekannte ist, wie sich diese Idee, dieses Versprechen, live anfühlt. Ein Blaulicht geht an. Taucht die Verstärker, das Zelt, das Befinden in kalte Aufregung. An der Seite der Bühne schlüpft Patrick Wagner in seinen mit Kunstblut verschmierten, ehemaligen Hochzeitsanzug. Herausputzen für den Niedergang. Helen Henfling zertritt in hochhackigen Schuhen und kurzem Rock ihre Zigarette. Erst mit Yelka Wehmeier ist Gewalt komplettiert. Und schreitet nun auf die Holzempore. 

Und eine Eruption durchfährt das Zelt. Ohrenbetäubend laut sägen die bis zum Anschlag verzerrten Gitarren aus den Boxen. Während der trockene, stumpfe, unmenschliche Beat der Drum-Maschine stoisch klopft. Durch Mark, Bein, Rückgrat und Gehirnwindungen hämmert, hämmert, hämmert. Helen Henfling und Yelka Wehmeier ruhen links und rechts von Wagner. In sich, in die stampfenden Gitarrenwände, in das dröhnende Feedback gekehrt. Zwei Ruhepole im Chaos. Elegant, wachsam, eiskalt. Ihre Antipode bildet Wagner. Seine konstant heisere Stimme, die sich irgendwo kurz vor dem Zerreißen einpegelt, ist der Funke in einem mit Gas gefüllten Hochhaus. Sie erhebt das Reizlevel von der Enervierung in die Unausstehlichkeit. Sie befiehlt die Verstörung in die Zerstörung.

"Arbeit, Krankheit, Tod", schreit Wagner in Pandora. Und lässt die Unentrinnbarkeit des Zerfalls in das Zelt. "Wissen ohne Denken, Schritte ohne lenken", krakeelt er in "Tier". Und verneigt sich vor der völligen Absage an unsere vermeintlich zivilisierte, doch in Wahrheit pervertierte Gesellschaft. "Du bist allein", wiegt er uns in "So soll es sein" in den Frieden mit der Einsamkeit als Mensch. Zwischendrin entschuldigt er sich, dass in Sachen Lautstärke nicht mehr ging. Gewalt spielt auf Anschlag. Sympathisch, offen und redselig überbrückt Wagner die Kluft zwischen Schauspiel und Zuschauer. Bis er mit Handzeichen den Beginn des nächsten Songs an den Tonmann deutet und sein zweites Ich zum Vorschein kommt. Ungehemmt, Entfesselt, scheinbar unzähmbar. So nutzt Wagner, beflügelt von den Reaktionen des Publikums, die volle Bühnenbreite aus. Klettert auf Monitore, stellt den Fuß auf die Absperrung. Neben ihm, abgeklärt und kaltblütig, Henfling und Wehmeier. Nicht als Beiwerk, sondern als unabdingbares Fundament, auf dem Wagner dem Wahnsinn Tür und Tor öffnen kann.

"Eine Höhle. Ein Nest. Eine Hütte.", zählt der Wahnsinn in "Wir sind sicher" dann auf, das zum Höhepunkt dieses nicht mehr mitternächtlichen und noch nicht morgendlichen Set wird. "Ein Bau. Ein Haus. Eine Festung." Gewalt bietet zwischen den Tagen ein Schlupfloch. "Ein Raum. Ein Wall. Ein Zuhause." Denn in ihrer kompromisslosen Absage an alles, was ein Konzert vorhersehbar macht, bedeutet diese Band die Freimachung von allem, was uns glauben lässt, sicher zu sein. "Eine Grenze. Ein Staat. Eine Maske." Denn nichts ist gewiss. Was uns im Geiste ruhen lässt, sind Lügen, auf die wir uns freiwillig oder unfreiwillig einlassen. Lügen, denen wir Glauben schenken wollen. Lügen, die andere mächtig machen. Lügen, die uns in Wahrheit einschränken. "Betäubung. Reichtum. Wohlstand." Seien es Konventionen, Regeln, Erwartungen an uns selbst. Von uns selbst. Von außen. "Erkenntnis". Gewalt zermalmt diese trügerischen Scheuklappen. Mit Geschrei. Mit Krach. Mit Lärm. Denn "Wir sind sicher", solange wir Menschen bleiben. Mit Gewalt werden wir auf die unverblümte, ungeschönte, ehrliche, nackte Conditio Humana zurückgeführt. Und können uns frei fühlen. Wenn auch nur für die Dauer eines Konzerts.

Eine photographische Rekonstruktion der Schau von Gewalt erreichen Sie per Klick. Alle Photographien stammen von Isabel Thalhäuser. Die jüngste EP "So geht die Geschichte/TIer" erscheint bei In A Car. Wir empfehlen den legalen Erwerb dieser und der vorherigen EPs. Am besten bei X-Mist Records. Dieser Abriss ist Teil unserer Berichterstattung zum Maifeld Derby 2017. Weitere Photographien und Abrisse zu dem Festival finden Sie hier. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören.