Fragmente

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Die imperfekte Welt.

Algiers live im franz.K in Reutlingen im Rahmen des Indi(e)stinction Festivals.

In einer perfekten Welt ist Donald Trump nicht an der Macht in den Vereinigten Staaten von Amerika. Erdogan nicht in der Türkei. Orban nicht in Ungarn. In einer perfekten Welt wird eine Rasse nicht von einer anderen über 400 Jahre lang versklavt und danach systematisch schlechter gestellt. In einer perfekten Welt hat man angesichts des Kollaps des globalen Ökosystems längst eine gangbare Alternative zum sowohl menschlichen als auch natürlichen Ressourcen vernichtenden Kapitalismus gefunden. In einer perfekten Welt steht der Wert, den das Geld von Lobbyisten und Unternehmern politisch bringen kann, nicht über dem Wert von Menschenleben. In einer perfekten Welt hassen, zerfleischen, verfolgen sich Menschen gegenseitig nicht auf Grund ihrer Herkunft. In einer perfekten Welt erscheint ihr Reichtum nicht als eine Vielzahl von Waren – und liegt in den Händen von nur einem Prozent ihrer Bevölkerung. In einer perfekten Welt muss man diese Zeilen nicht schreiben. Doch sie ist nicht perfekt.

Genau deswegen spielen sich Algiers gerade die Seelen aus dem Leib. Die über Atlanta, New York City und London verstreute Band hat im Jahr 2017 nach einem für Furore sorgenden, selbstbetitelten Debüt die Kraft ihres kompositorischen Kontinuums eindrucksvoll unter Beweis gestellt und "The Underside of Power" veröffentlicht. Beschäftigte sich der im Jahre 2015 losgelassene wütende ältere Bruder noch hauptsächlich mit der Geschichte des Rassismus und der Civil Rights Bewegung in den USA und all ihren existenziellen und gesellschaftlichen Konsequenzen, öffnete The Underside of Power die musikalischen wie inhaltlichen Topoi noch weiter. Neben Gospel, No Wave und Post Punk fanden Grime, Rap, Noise und Industrial Eingang, wobei der Kompass der von Algiers auseinandergenommenen Ungerechtigkeit global angelegt wurde – und vor allem aktuell. Soziale Unterdrückung, die #BlackLivesMatter-Bewegung, faschistische, autokratische Dystopien – Algiers sezieren auf The Underside of Power all das, was uns täglich die Tränen in die Augen treibt, die Sorgenfalten entstehen lässt, uns den Rücken krumm arbeiten lässt. Herausgekommen ist ein vielschichtiges, mutiges, dunkles Album, das jedoch immer dann, wenn der Blick gen Zukunft all zu dunkel scheint, ein Fünkchen Licht aufblitzen lässt. Denn Algiers haben trotz der vermeintlichen Aussichtslosigkeit den Kampf nicht aufgegeben. Nein, sie kämpfen euphorischer, energischer, wilder und leidenschaftlicher als je zuvor.

Lee Tesche.

Und genau so stehen sie nun auf den Brettern der Bühne des franz.K: Bereit, gegen jede noch so undurchdringliche Wand anzulaufen. Zwischen Synthesizern, Ketten, Schellen, einem Piano, zum Krachmachen umfunktionierten Gitarren, Ketten und einem in einem alten Koffer versteckten Macbook ragt der hagere, haarige Kopf Matt Tongs auf und zählt den Untergang der imperfekten Welt ein. Gitarrist Lee Tesche wartet mit geschürzten Lippen erhaben im mit Südstaaten-chic angehauchten Anzug, der Jogginghose tragende Bassist Ryan Mahan zappelt eine idiosynkratische Mischung aus amerikanischem Ureinwohner-Tanz und Goa-Bewegungen, während das noch in sich ruhende Sprachrohr der Band Franklin James Fisher sich mit Michael Jackson Schwüngen enragiert. Drei Blicke. Da bricht der Schlachtruf 'Walk Like A Panther' über uns los – und mit ihm ein Meisterstück der musikalischen Expropriation der Expropriateure.

Denn in über einer Stunde unterlaufen, untergraben und unterminieren Algiers all das, was die Machthalter unter dem Status Quo verstehen. Ziehen die Leiden, die Wut und die Geschichte des subkulturellen Ausdrucks der Unterdrückten dieser Welt auf sich und kombinieren ihn frevelhaft eklektisch zu einem explosiven doch tanzbaren Amalgam. So verbinden Algiers die getragene Resignation des Gospel mit der Rauheit des Punk, maschinelle Industrial-Beats mit der Reinheit des Piano. Lassen mit tiefem Bass wabernde Grime-Beats in derben Noise ausufern. Dabei führen die Stücke der Band das Erbe des No-Wave eindrücklich fort: Hier gibt es keine vorgefertigten Song-Strukturen. Hier gibt es keine klassische Rollenverteilung. Hier werden mit den Gitarren nicht die selben, alten musikalischen Verbrechen begangen.

Matt Tong.

Tesche benutzt seinen Fundus an ausgefallenen, umgebauten Gitarren, um den Teufel der unsichtbaren Hand in der Anlage des franz.K im Krach auferstehen zu lassen – und lässt ihn kniend, mit einem Violinbogen streichend, oder mit einer Kette die Saiten anschlagend an die Wand fahren. Tong trommelt auf seinem Schlagzeug mal stoische Hip Hop Beats, dann Afrobeats, dann Soul und dazwischen immer auf Sample-Pads, die allesamt ein treibendes Stakkato durch die zahlreichen Besucher jagen. Mahan entlockt entweder seinem Bass treibende, triefende Lines oder seinem Synthesizer dystopische Drones und ist trotz abwesendem, entschlossenem Blick an ein entfernt liegendes Ziel in seinen Bewegungen und seiner Körperlichkeit so präsent, dass er ohne Weiteres als Frontmann der Gruppe durchgehen würde. Geschrien wird von allen. Gesungen sowieso. Und geklatscht, gejault, getanzt. Dabei gönnen Algiers ihren stramm angelegten und dicht dargebotenen Songkonstrukten immer wieder Raum für Improvisation. Lassen sie krachend ausarten, oder flehend in der Luft zerbersten.

Ihr Unterfangen kann nicht funktionieren. Nicht mal am Papier. Es sollte nicht funktionieren. Es darf nicht funktionieren. Doch wenn die Stimme Franklin James Fishers mit den Kompositionen verschmelzen, dann geht der subversive Plan der Vier auf.

Ryan Mahan.

Denn Fishers auf der Welt kaum Ebenbürtige findende Range intoniert das jahrelange Leiden der Vergessenen schreiend, flennend, verzweifelnd. Spuckt die Wut der Unterdrückten in Wort-Attacken wütend aus. Beschreibt die tragische Wut der Schwester und Brüder der Ermordeten – "But Innocence is alive and it's coming back one day".  Beklagt das unnötig vergossene Blut der Afro-Amerikanischen Bevölkerung, das noch immer unterdrückt wird – "Your television coma. All my blood's in vain." Beschwört dann ein Schlupfloch für den Umsturz – "Because I've seen the underside of power. It's a game that can't go on. It could break down any hour." Mimt mit umgedreht umgehängter Gitarre die Konventionen-verächtende Persona (non) grata Jimi Hendrix. Überführt die punkigen und noisigen Eskapaden der Band mit souligem Verve in innige Piano-Balladen – und zurück. Verabschiedet sich in Bad Brains-Manier ins Publikum und sucht die Nähe der Zuschauer. Und genau dann, zwischen wildem Getobe, lautem Gejohle, nickendem Tanzen und beeindrucktem Geklatsche blitzt bei den Zuschauern zwischen all der Ausweglosigkeit ein Umdenken auf. Erst als spärliches Licht, doch zum Ende hin immer klarer.

Denn wenn vier Menschen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlicher Kultur auf einer Bühne zusammenfinden, wo jeder nach all seinen Talenten handeln kann. Wo jeder das zurück bekommt, was er investiert. Wo es keinen vorbestimmten Anführer gibt. Keine vorgefertigte Struktur. Wo jeder Song dorthin gehen kann, wohin der Song es gebietet. Wo jeder Mensch willkommen ist, der Menschen respektiert. Wo gemeinsam gegen Ungerechtigkeit angekämpft wird. Wo die Geschichte mit Bedacht behandelt wird, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Wo keine Norm als unumstößlich gilt. Wo nicht auf dem Rücken der Armen Profit geschlagen wird. Warum sollte das nicht auch auf der ganzen Welt funktionieren?

Franklin James Fisher.

So ist es kein Wunder, dass das heutige Auditorium Algiers zu zwei Zugaben bewegt. Denn wenn Fisher, Mahan, Tong und Tesche demnach auf der Bühne stehen, knien, schreien, tanzen, ihr Innerstes nach Außen beschwören – dann ist die Welt in jedwedem Raum, der sich um sie befindet, für eine Handvoll Minuten in Ordnung. Doch global wird sie das nur sein, wenn wir Alle die Inhalte dieser Band nach draußen tragen. Wenn wir uns der Macht bewusst werden, die in den Händen der vermeintlich Machtlosen liegt. Wenn wir gegen Ungerechtigkeit eintreten. Gegen Faschismus kämpfen. Gegen Rassismus. Wenn wir alle Menschen gleichberechtigt behandeln. Wenn wir dem im Kern unfairen System des Kapitalismus eine gangbare Alternative entgegensetzen – die im modernen Genossenschaftswesen oder der Kooperation in der Sharing Economy vielleicht ihren Anfang haben mag. Wenn wir stets das Kollektiv in all unseren Entscheidungen mitdenken und nicht nur auf unseren eigenen Vorteil stieren. Wenn wir es trotz aller zu erwartenden Rückschläge schaffen, nicht den verlockenden Weg des Zynismus zu gehen. Wenn wir auf Hass nicht mit Hass reagieren sondern, ohne alle Peinlichkeit, dies auszuschreiben und auszusprechen – mit Liebe. Bis dahin bleibt uns das Schaffen von Algiers. Welch Paukenschlag, dies Gespenst um die Welt gehen zu lassen.

Eine photographische Rekonstruktion der Schau erreichen Sie per Klick. Alle Photos stammen von Isabel Thalhäuser. "The Underside of Power" ist bei Matador Records erschienen. Einen Text dazu können Sie hier lesen. Wir empfehlen den legalen Erwerb dieses und des selbstbetitelten Longplayers, der davor erschienen ist. Algiers werden in den kommenden Monaten noch zahlreiche weitere Shows bestreiten. Eigentlich müsste man jeder davon beiwohnen. Wir legen es Ihnen wärmstens an die toten, kalten Herzen, sich näher mit der Band und ihren Inhalten auseinanderzusetzen. Sie werden es nicht bereuen. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Sun Worship hören.