Fragmente

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Flucht über Ich.

In the Suburbs: HOPE live im Kulturzentrum Dieselstrasse.

Die Erregung hat es schwer. Denn hier passiert nichts. Es ist Samstag Abend, die Sonne lässt sich gerade noch gemächlich nach unten. Macht Platz für Trubel, Aufregung, Hysterie. Für all das, was einen etwas spüren lässt. Was einen später mal etwas erzählen oder zumindest wissentlich schweigen lassen wird. Man kann es riechen. In der Kühle der Luft steckt die Möglichkeit. Sie stemmt sich gegen die Wärme des untergehenden Tages. Süßlich lauert sie hinter zahlreichen Ecken. Sie verschwinden langsam im Zwielicht. Doch was wartet dahinter? Nichts als Tristesse. Die Parkplätze vor den Supermärkten leeren sich langsam. Vor ein paar aus der Zeit gefallenen Internet-Cafés trinken verlorene Seelen Bier Nummer zehn, elf, zwölf. Schlüsseldienst-Shops und Tabakgeschäfte lassen die Jalousien runter. Die Busse rollen nur noch in den Feierabend.

Wer hier sein Haus hat, hängt vor dem Bildschirm und zappt und streamt den Abend in die Profanität. Die Glotzen leuchten aus den Häusern in die Nacht. Die Bilder treffen auf keine Gesichter. Nur auf die flackernden Schilder von Real oder Agip, vor der ein paar Prolls mit ihren Mopeds rumhängen. Die Straßen sind viel zu sauber, als dass darauf Revolutionen stattfinden könnten. Die Häuser zu kernsaniert, als dass man sie besetzen könnte. Die Leute zu satt, als dass sie Hunger auf Neues verspüren könnten. Die Lichter in der Dorfdisco, die seit 20 Jahren die selben Songs spielt, sind lange aus, bevor man damit die Nacht verbrennen könnte. Verlieben kann man sich hier nur in billigen Schnaps. Gemischt mit Cola. Wie soll man da nur rauskommen? Wir sind in Esslingen, irgendwo in Baden-Württemberg. Doch "In The Suburbs" und HOPE aus Berlin haben dem heute etwas entgegenzusetzen. Und plötzlich passiert etwas.

Dabei wird es der Band, wie immer in ihrer noch kurzen Historie, nicht leicht gemacht. Denn HOPE ist Resultat eines positiven Scheiterns. Die vier Musiker mussten erst ihr vorhergehendes Projekt eigenmächtig an die Wand fahren, um sich selbst für HOPE zu öffnen. Mussten erst ihr an einer Jazz-Akademie angeeignetes Wissen und das damit verbundene musikalische Sicherheitsdenken über Bord werfen, um in die unsicheren Gewässer des ursprünglichen Drangs, sich auszudrücken, zurückzufinden. Nackt, ehrlich und düster gestaltete sich denn auch das im letzten Jahr veröffentlichte, selbstbetitelte Debüt der Gruppe. Auf 34 dichten Spielminuten kreisen sie darauf um den Punkt ihrer eigenen Geschichte, die sie damit schlussendlich bestimmen und für Neues öffnen. Zerkratzen und verwunden sich und finden zwischen explosionsartigen Rhythmen und geisterhaft selbstzweifelnden Synthie- und Gitarrenflächen schließlich zu sich selbst. Stets angeführt von der zwischen allen Extremen ihrer Range changierenden Stimme Christine Börsch-Supans, die mit ihren durchdringenden Phrasierungen zum unverwechselbaren Merkmal von HOPE wird. Am Ende des Albums steigen die vier Musiker zwar mit Schürfwunden und blauen Flecken, doch als Sieger aus dem Ring, in dem sie sich selbst gegenüberstanden.

Und so ist auch der heutige Abend ein Kampf: Gegen den Raum. Denn das Kulturzentrum Dieselstrasse ist sauber, aufgeräumt, poliert und glatt. All das, was HOPE – und In The Suburbs – zu erschüttern suchen. Doch die Band hat zu viel durchgestanden, um sich davon einschüchtern zu lassen. So stehen die vier nach einem achtbaren Set von Real War auf der ausladenden Bühne. Noch mehr zur Musik, als zu sich selbst gerichtet. Monolithisch dunkel, gleichzeitig aufgeregt abwartend. Fühlen den Raum um sich. Fühlen die puritanische Zuschauerschaft. Fühlen ihre Augen, fühlen die Smartphones, die Kameras, die Lichter auf ihrer Haut. Und füllen den Raum endlich geradezu programmatisch mit den Unheil versprühenden Drones von "Skin". Mit drohendem Blick und aus sich reichenden Gesten schickt Börsch-Supan ihre Worte an das Schafott der Öffentlichkeit. Jedes davon ein Geständnis. Das an der vollgefressenen Akzeptanz der Ordnung des Alltags nagt.

Während ihre Mitstreiter Schichten der Zerlegung um sie herum türmen. So ist sich der groß gewachsene Staffa der Verbrechen bewusst, die mit den klassischen Akkord-Folgen der Gitarre der Welt bereits angetan wurden und begreift sein sechs-saitiges Instrument als Arbeitswerkzeug zur Geräusch-Fabrikation. Lässt mit seinem eigentlichen Instrument – seinem Pedal-Board – gleichsam geisterhafte Feedbacks wie enervierenden Lärm daraus entweichen. Nimmt sich an den richtigen Stellen aus dem Song zurück, um ihn dann federführend voranschreiten zu lassen. Doch formiert zu jeder Sekunde eine geschlossene Einheit mit Keyboarder Knorz und Schlagzeuger Hönes, die ihrerseits eigentümliche Klang-Explorationen fernab von den Fesseln des 4/4-Takts entwickeln. So reduziert Hönes sein Schlagzeugspiel bei Zeiten an einen derartigen Minimalismus, dass der Zuhörer vor Sturm- und Drang-Lust fast zerplatzt. Nur um an nächster Stelle in einen High-Speed Marathon auszubrechen. Konterkariert, stets, von den Statuen-gleich dargebotenen Synthesizer-Flächen und -Melodien Knorz'. Drohend und dröhnend wabern sie dann im Dunkel, oder pochen schicksalshaft wie ein alles verändernder Zahnschmerz im Hintergrund.

Gemeinsam schließt sich ihr Spiel zu einer düsteren Szenerie zusammen, die sich wie ein finsteres Uhrwerk hinter Börsch-Supan klemmt. Drahtig und idiosynkratisch lässt ihr Organ das Uhrwerk ausreizen. Schneidet mit ihren Phrasierungen einem Messer gleich durch das Auditorium. Breitet sich lautstark darin aus. Reduziert die Lautstärke dann, und legt ein fast zweifelndes Klagen über tumbes Rauschen. Dazwischen explodiert sie zäh und drahtig in einen expressiven Tanz. Als würde sie versuchen, sich freizumachen von ihrer Gabe, mit ihrer Präsenz die Blicke auf sich zu bannen. Nahezu leidend wirkt sie dann in stummen Momenten, an denen sie keine Blicke auf sich wähnt. Als wäre ihr Talent zur Expression eine Bürde, das gegen den Drang zum Verstecken ankämpft. Dennoch scheint es genau dieser innere Kampf zu sein, der Börsch-Supan ihrem Element näher bringt. Das sie dann und wann allen Zwist, alle Zweifel vergessen lässt. Und den Weg für ihre Stimme völlig freigibt. So wartet das Publikum denn auch zu Beginn noch interessiert ab, doch verfällt während des Verlaufs der Schau in beeindruckte Andacht.

Zu einer Andacht, die zum Selbst führt. Denn dort zwischen den sanften Flächen und den harten Worten. Zwischen den tobenden Rhythmen und dem stillen Klagen. Zwischen dem selbstvergessenen Tanzen, dem angestrengten Keuchen und dem Herausschwitzen alles Angestauten. In dem Klangbild, das nicht mehr Deutsch, sondern universell – man könnte auch international sagen – anmutet. Wo die Zeit sich nicht mehr in Sekunden, Minuten, Stunden kategorisieren lässt. Wo die Töne nicht mehr auf einzelne Instrumente zurückzuführen sind – oder zurückgeführt werden wollen. Wo die Gesamtheit die Gedanken erfasst und sie nicht mehr in Einzelheiten verlieren lässt. Da leuchtet die wahre Kunst der Band aus dem Dunkel der Bühne zurück. Denn genau dort schaffen HOPE einen Raum im Raum, der den Blick weg lenkt von der Tristesse des Alltags. Und ihn – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – auf uns selbst reflektieren lässt. 

Dann ist das Alltägliche nicht mehr alltäglich: Wenn man darin die Möglichkeit erkennt, zu sich selbst zu finden. So ist der Agip-Tankstelle Mittel und Weg zur Flucht inhärent. So bringt einen der Bus zumindest einen Ort weiter. So kann jeder Bildschirm ein Fenster in eine neue Welt oder ein Spiegel zu sich selbst sein. So kann Alkohol nicht nur zur Betäubung, sondern auch als Lösungsmittel der Selbstlügen eingesetzt werden. So ist im größten Nichts der Welt nichts größer als die Chance, etwas zu machen, um dieses Nichts zu füllen. Man muss sie nur als solche erkennen. Mit HOPE erkennen wir diese Auswege aus der Profanität des Alltags. Denn sie sind diese Wege selbst mit schmerzlichen Irrungen und Wirrungen entlang geschritten – und schreiten sie weiter. Danach wartet Hysterie, Sensation, Aufregung, Extravaganz. Wie an diesem Abend. Auf dieser Bühne. in diesem Raum. An diesem Ort, an dem es keiner erwartet hätte. Deswegen muss die Gruppe nach "Kingdom" auch auf die Bühne für eine Zugabe zurück. Doch der Weg dorthin, er war ein Kampf und er wird es bleiben. Doch wird er sich immer wieder lohnen. Ob in Esslingen, in Berlin, oder überall auf der Welt, wohin es diese Band – so bleibt es nicht zu hoffen, sondern zu erwarten – noch verschlagen wird. 

Eine photographische Rekonstruktion der Schau finden Sie hier. Alle Photos stammen von Isabel Thalhäuser. Ein paar Worte über das erwähnte selbstbetitelte Debüt von HOPE erreichen Sie hier. Das Album erscheint bei Haldern Pop Recordings. Wir empfehlen nach wie vor den legalen Erwerb. Gewechselt wurden Worte auch – und zwar mit Phillip Staffa und Christine Börsch-Supan. Das Ergebnis lesen Sie hier nach. Die Band wird in den kommenden Tagen noch weitere Shows spielen. Ein Beiwohnen selbiger legen wir Ihnen an die toten Herzen. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "In The Suburbs", initiiert vom Kulturzentrum Dieselstrasse, sind in den nächsten Wochen und Monaten noch weitere Schauen geplant. Informieren Sie sich. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Youth Code hören.