Fragmente

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Flavio Bacon, Human Abfall.

Das ist ein einziges Desaster.

Jeder will es gewesen sein. Der oder die Erste, die über Human Abfall geschrieben hat. Die zuerst mit Dada um die Ecke kam. Den Post-Punk schon aus zehn Metern Entfernung gerochen hat. Die sozialkritischen, der negativen Dialektik folgenden, Texte Herrn Bacons fehlerfrei versteht. Und die damals, als sie noch keiner kannte, schon vor den Jungs stand.
Versteht sich von selbst. Denn: "Form und Zweck", das Nachfolgewerk zum raueren, dichteren "Tanztee von Unten" ist wichtig. Für die Gitarrenband-Landschaft. Für Deutschland. Und allen voran für Human Abfall selbst. Denn die Musikgruppe hätte sich für die Platte beinahe selbst zerfleischt.
Zeit also, um mit Herrn Flavio Bacon über Depressionen, den Stuttgart-Sound, Psychosen und Gebetsmützchen zu sprechen.

Herr Bacon, laut eigener Aussage haben Sie sich für „Form und Zweck“ in die innere Migration begeben. Wie sah diese konkret aus?
Wir sind alle ein ganzes Stück älter geworden. Ich gehe langsam auf die vierzig zu, meine Bandkollegen auf die dreißig. Seit Entstehung der zweiten Platte war ich mit meinem Zweitstudium fertig. Ich habe im Erststudium Medientheorie studiert, was eine vollkommen brotlose Kunst war, dann über fast zehn Jahre nur in prekären Jobs gearbeitet und danach noch einmal studiert. Ich war schließlich in einer Art und Weise angekommen. Ich hatte früher auch immer sehr mit mir zu kämpfen und ein schweres Problem mit massiven Depressionen. Was ich auch überwunden habe. Das war ein ganz großes Thema. Deshalb hat die erste Platte einen viel persönlicheren Bezug. Bei der zweiten Platte hat dann das erste Mal ein Durchatmen stattgefunden – nachdem das eine Problem auf Eis gelegt war - denn so etwas ist nie komplett beseitigt. Und der Kopf war offen, um die Realität anzunehmen.

Hat es denn geholfen, dieses schwierige Thema auf der Bühne loszuwerden?
Klar. Einerseits ist das ein gewisser Coping-Prozess zur Stressbewältigung. In der Psychotherapie nennt man das Resilienzlinie. Wenn diese überschritten ist, hat man einen gewissen körperlichen und mentalen Zustand. Je belasteter man ist, desto weiter rutscht diese Linie nach unten. Diese ist jetzt um Welten höher, als wenn wir vor fünf Jahren gesprochen hätten. Andererseits ist das Musikmachen natürlich eine tolle Sache. Wenn man dazu noch dieses unglaubliche Glück hat, eine von ein paar tausend Bands zu sein, für die sich Leute interessieren – das hört sich banal an – aber dann ist das auch gut für das Ego. In meinem Leben steht mittlerweile viel auf sehr stabilen Füßen und ich muss am Anfang des Monats keine Angst mehr haben, wie ich die Miete bezahle. 

Ist das der Grund dafür, dass die neuen Songs zugänglicher sind?
Der Sound ist offener und luftiger geworden. Die Songs langsamer. Es ist mehr Platz zwischendrin. Auch für mehr Details. Wir haben die Energie rausgenommen und mehr auf Dynamik gesetzt. Das macht das Hören einfacher. Auch die Produktion ist um Welten besser, weil wir mehr Zeit und Geld hatten.

War dies von vornherein geplant?
Als wir ins Studio gingen, hatten wir zweieinhalb Songs fertig. Die Songs der Platte sind in zwei Wochen entstanden. Zwei Wochen, die unglaublich beklemmend waren. In denen wir alle nicht wussten, wo wir hin sollen und was wir mit uns anfangen sollten. Wir dachten alle: „Verdammt nochmal. Warum haben wir uns nicht vorbereitet? Das ist ein einziges Desaster.“ Und das ist nun dabei rausgekommen. 

    "Das ist ein einziges Desaster. Und das ist dabei rausgekommen."

Das Endprodukt zeigt: Es hat sich gelohnt.
Ich habe das Album, als es im Januar fertig abgemischt war, immer auf dem Weg in die Arbeit gehört. Ich habe wirklich sechs Wochen gebraucht, um Freund damit zu werden. Die Songs vom ersten Album haben wir teilweise eineinhalb Jahre live gespielt. Das war natürlich gewesen, natürlich entstanden. Bei „Form und Zweck“ waren wir vollkommen ins kalte Wasser geworfen. Wir wussten zwar, was wir wollten, aber was dabei rausgekommen ist, ist etwas ganz anderes. Aber ich bin total zufrieden und glücklich damit.

"Ich habe sechs Wochen gebraucht, um Freund von "Form und Zweck" zu werden."

Dennoch wirkt „Form und Zweck“ beim ersten Durchlauf schlüssig und geplant.
Wahrscheinlich wirkt es so schlüssig, weil es in diesen zwei Wochen entstanden ist. In einem Vibe. Und der war katastrophal. Im Nachhinein haben wir uns bei Ralv Milberg, der die Platte aufgenommen hat, für einige Tage entschuldigt. Weil es wirklich furchtbar war, beinahe psychotisch. Wir haben nach den Aufnahmen vier bis fünf Monate Pause gemacht. Denn wir haben über drei Monate jede freie Minute in diese Platte gesteckt. Und jeder hat natürlich andere Meinungen darüber, wo sie geschnitten, gemastert, produziert wird. Wie sie heißen soll, und so weiter. Diese Details haben wir bis zum Erbrechen ausdiskutiert. Dabei haben wir uns hassen und lieben gelernt. In der Tourvorbereitung standen wir das erste Mal seit einem dreiviertel Jahr gemeinsam im Proberaum und haben einfach nur Musik gemacht. Und es war einfach super. Vorher gab es Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob ich da überhaupt noch fünf Minuten meiner Lebenszeit hineininvestieren möchte. Aber das sind wichtige Punkte, die es geben muss, um sich wieder zu erden.

"Wir haben uns bei Ralv Milberg für einige Tage entschuldigt. Es war wirklich furchtbar. Beinahe psychotisch."

Beeinflusst die vielzitierte „Wohnstadt Stuttgart“ Ihren Sound?
Nein, sondern ein Freundeskreis aus zwanzig Leuten, aus dem sich die ganzen Bands rekrutieren. Wenn irgendjemand diesen Stuttgart-Sound definiert hat, dann Second Hand Records. Die Leute, die da arbeiten. Die uns seit Jahren die richtigen aus den x-zehntausend Platten, die da rumstehen, in die Hand drücken und sagen: „Das brauchst du. Die kriegst du nur alle zwei Jahre in die Hand. Nimm die ungehört mit!“

„Wenn irgendjemand den Stuttgart-Sound definiert hat, dann Second Hand Records.“

Klar sagen viele, den Sound prägt das Studio von Ralv Milberg, oder die Waggons von Moritz oder das Komma in Esslingen. Diese sind natürlich ganz wichtige Kernpersonen für das Ganze. Wenn du mich fragst, sogar wichtiger als die Leute in den Bands. Denn sie sind strukturgebend. Es gibt so vielfältige Einflüsse, weil die Kernpersonen eines gemeinsam haben - und das ist das Interessante - sie sind totale Musiknerds. Natürlich hat jeder seine Spezialexpertise und jeder ist grundsätzlich für so gut wie jedes Genre offen. Aber es geht um eines: Qualitativ sehr, sehr hochwertige Platten. 

„Form und Zweck“ beschäftigt sich mit dem oft skandierten „Untergang der Kultur“. Dabei wurde der Untergang vor zehn, zwanzig Jahren ebenso prophezeit. Wiederholen wir nur die Geschichte, oder ist es nun so weit?
Gerade Ende der 70er, Anfang der 80er. Reagan, Thatcher, Kohl gegen den bösen Feind im Osten. Da war sich auch fast jeder im Klaren, dass die Welt am Abgrund steht, obwohl es jedem auf der westlichen Seite des eisernen Vorhangs ökonomisch gut ging. Ich würde nicht sagen, dass die Kultur untergeht, sondern dass ein Umformungsprozess der Grundhaltung der Menschen stattfindet. Wenn nicht gerade irgendwelche Spekulationsblasen in einer Reihe platzen, wird unser Leben in den nächsten fünf bis zehn Jahren genauso aussehen wie jetzt. Denke und hoffe ich. Doch die Grundhaltung wird bissiger. Es entsteht ein großer Egoismus. So wird auch der tolle, pazifistische Europagedanke, den es einmal gab, mittlerweile nur noch auf den Wirtschaftsraum beschränkt.

Im Beschreibungstext zu Ihrer Platte steht, dass wir deswegen zur Normalität zurückfinden müssen. Ist das nicht ein Trugschluss? Denn Normalität ist ja etwas rückwärts gewandtes.
Da geht es nicht um regressiven Charakter. Man kann natürlich romantische Bilder von früher haben. Aber in diesem Text geht es darum, in die Normalität eines normalen Lebens zurückzukommen – das angstfrei ist. Dass man trotz Terroranschlägen keinem Populismus verfällt. Natürlich existiert eine Bedrohung, die auch andere Gesellschaftsschichten anspricht. Es kann letztendlich in Mitteleuropa, ähnlich wie es in Israel ist, jeden Tag in einer blöden Situation von irgendwelchen fehlgesteuerten Fanatikern irgendetwas Blödes passieren. Das soll aber nicht bedeuten, dass man deswegen sein Leben verändern sollte. Und sich dadurch in eine Richtung pressen lassen sollte, die weg geht von einem aufgeklärten Humanismus.

Ein Song, der das Thema Normalität im Sinne von „Ein normales Leben leben“ behandelt, ist „Denken Lernen". 
Beschäftigt man sich mit struktureller Soziologie, entdeckt man sehr große Parallelen zwischen Verschwörungstheorien, totalitären Meinungen, Rechtspopulismus und der Legitimierung selbiger.
Beispiel Pegida: Die stellen sich hin und sagen, sie sind das Volk. Die Leute, die diese Meinung teilen und auf die Straße gehen, sind ein recht kleiner Anteil der Gesamtbevölkerung. Aber sie legitimieren, dass sie das Volk sind, über die Meinung, dass es eine verschwörerische Lügenpresse gibt, mit diesem komischen antisemitischen Weltbild, dass USA und Israel die Fäden in der Hand haben und in irgendwelchen geheimen Räten die Weltgeschehnisse beschließen. Für mich als realitätsfreundlichen Menschen ist das vollkommen absurd. Dadurch legitimieren sie jedoch ihre Minderheitenmeinung und sagen, sie sprechen für ein ganzes Volk, was im Schlaf liegt und wach gerüttelt werden muss.
Verschwörungstheorien führen immer wieder auf die selben Punkte zurück, die meist in Pseudowissenschaften enden. Ich bin ein sehr großer Freund der Kernwissenschaften. Es gibt keine Garantie für irgendetwas. Wissenschaftliche Prinzipien werden hinterfragt und erneuert. Es geht nicht um Meinungen. Es geht um Fakten.

Dennoch darf man zum Thema „Lügenpresse“ das Buch  „Manufacturing Consent“ von Noam Chomsky nicht vergessen. Darin zeigt er systematisch und mit wissenschaftlichem Anspruch, dass von Medien eine Meinung erzeugt wird. Auch von der New York Times, der Sueddeutschen der FAZ. Vermeintlichen Qualitätsmedien also. Auch sie sind Teil eines Meinungsbildungsprozesses. 
Natürlich. Das kann man letztendlich auch gar nicht infrage stellen, was ja einerseits auch daher ruht, dass die meisten Redakteure gar keine Zeit und kein Geld haben, um qualitativ hochwertige Arbeit zu leisten. Dann besteht immer noch die Frage, wie kritisch man diese Meinungsbildung dann wiederum betrachtet. Ich muss ganz ehrlich sagen, solange sich das ganze in einem kritisch-demokratischen Kontext abspielt und es vor allem eine Pressevielfalt gibt, kann sich jeder aussuchen, welchem Kanon er am liebsten nachgeht. Kritisch wird es in Nationen wie Ungarn, wo Medienvielfalt vollkommen eingeschränkt wird.

Form und Zweck bezieht sich jedoch auf die deutsche Realität.
Ja natürlich. Das Problem, das ich mit dem meisten Hardcore und Punkrock habe, oder auch mit der traditionellen deutschen Linken, ist, dass sich in der Kritik sehr stark auf die USA fokussiert wird. Eine Kritik an Wirtschaftsmächten oder G8-Staaten muss möglich sein, klar. Bloß lebe ich in einer Demokratie, die ich als einer von rund 80 Millionen Leuten selbst beeinflussen kann. Sich dann auf einem sicheren Posten hinzustellen und in Stammtischmanier gegen die USA, die aktuelle und eventuell kommende Regierung zu wettern – das verhallt einfach. Es hat keinerlei Zweck. Jeder weiß, dass das eine Wirtschaftsmacht ist, die ihre Interessen durchsetzen will. Genau wie Deutschland, Frankreich, England oder sonstige Großstaaten. Dass da Sachen laufen, die man als Mensch, der nicht in der großen Politik- oder Lobbyarbeit ist, für total absurd hält, ist klar. Aber was soll man daran beeinflussen?

Ist es das Ziel, mit „Form und Zweck“ etwas zu beeinflussen?
Eher einen aktuellen Bezug zu schaffen. Ich habe immer das Gefühl, dass viele Künstler Angst davor haben. Letztes Jahr haben wir im Ruhrpott auf einem Festival gespielt und da hat auch eine Punkrock Band gespielt. Die hatten Helmut Kohl auf ihrem 7-Inch Cover. Ich fragte dann, warum da nicht Angela Merkel drauf ist. Sie meinten, sie hätten nur Bezug zu 80er Jahre Punkrock. Aber Helmut Kohl ist doch nun ein alter Mann, der im Rollstuhl sitzt und keinen geraden Satz mehr herausbekommt. Warum wird sich da nicht auf Realpolitik bezogen? Das war der ausschlaggebende Punkt, Texte über aktuelle Ereignisse zu schreiben. Anstatt über Themen, die eine Predigt an die Bekehrten sind. 

In „Q: Wo ist Franz. A: Im Dschihad“ schließt sich Franz aufgrund fehlender Identifikationsfiguren dem Islam an.
Es gibt eine Statistik darüber, wie Radikalisierungsprozesse oft ablaufen. Meist männliche Jugendliche, die ohne Vater und in nicht ganz idealen Rahmenbedingungen aufwachsen, schlagen gerne mal eine kriminelle oder Drogenlaufbahn ein. An dem Punkt, wo sie dann nach einem neuen Lebensinhalt suchen, der in einem cleanen Kontext abläuft, stoßen sie dann auf Religion.
Klar, im Punk Rock kann man Straight Edge werden. Aber wenn du in einem Arbeiterstadtteil mit sehr vielen Migranten lebst, dann ist Religion nicht so weit weg. In Sachen Identifikationsfiguren  wird einem dann eine starke Maskulinität, die nicht hinterfragt wird, durch Rollenbilder auferlegt. Das hat etwas mit Rebellion zu tun. Denn du kannst heute mit einem Iro in die Schule kommen – das juckt keine Sau mehr. Mit einem Gebetsmützchen und einem wolligen Bart, wenn einem denn schon einer wächst, kann man den einen oder anderen erschrecken. Man hat eine Generation von Jugendlichen mit einer zu offenen Jugendarbeit – ganz große Kritik an dieser Stelle – einfach auch allein gelassen. 
Es ist natürlich auch ein spöttisches Lied, das ich mittlerweile ein bisschen schwierig finde, weil es ja wirklich um ein krasses Thema geht. Mit dem sich Menschen ihr Leben versauen. 

„Man hat eine Generation von Jugendlichen allein gelassen.“

Wo sind Identifikationsfiguren also zu finden?
Das ist ein ganz schweres Thema, weil es vollkommen individuell ist. Es gibt ja nicht mehr die über Jahre gewachsenen „Superstars“. Menschen, die mit Bob Dylan oder Kurt Cobain vergleichbar sind. Die bekannten Musiker sind die, die in einfachen Häppchen und vor allem kommerziell verwertbar sind. Deshalb ist meine Kritik an der ganzen Musik, wie sie zur Zeit im popkulturellen Kontext besteht, dass man auf jedem Level gefällige Musik macht. Nach einem Popakademie Schema.
Wenn man Glück hat, macht man eines jener zehntausend Lieder, das besteht. Das ist total furchtbar.

"Der ganz obere oder der ganz untere Bereich der Skala – der ist mir wichtig."

Im Endeffekt kannst du jegliche Musik machen. Solange du sie gut machst und dir ein bisschen den Arsch aufreißt, wird sie gehört. Man kann seine eigene Nische einnehmen. Man muss sich nur trauen. Sich hinsetzen und an Texten arbeiten. Ich finde es grausam, wenn irgendwelche Leute sagen, sie hatten einen kurzen inspirierenden Moment, als sie ihre Freundin verlassen hat. Na klar, das ist scheiße. Aber hock’ dich mal hin und schreib’ über einen Aspekt, über den nicht zwanzig Leute bereits geschrieben haben. 
Darin investiere ich zum Beispiel viel Zeit. Meine Texte sind meistens, abgeleitet von Zeitschriftentexten die ich schreibe, soweit zurückverdummt, dass von den Kerninhalten nur noch wenige Sätze oder Schlagworte bleiben. Die aber dennoch einen stringenten Sinn ergeben. 
Man muss sich Gedanken machen, was man machen und wo man hin will. Und nicht, wen man erreichen und in welche emotionale Situation man die Leute bringen will. Das ist vollkommen zweitrangig. Deshalb finde ich es auch nicht schlimm, wenn Leute sagen, das ist das Furchtbarste, das sie jemals gehört haben. Diese Rückmeldung bekomme ich aus meinem Freundeskreis sehr oft. Und das ist gut so. Denn entweder der ganz obere oder der ganz untere Bereich der Skala ist mir wichtig. 

Wir danken Herrn Bacon vielmals für das aufschlussreiche Gespräch. Lesen Sie hier eine Meinung zu "Form und Zweck". Erstehen Sie die Platte bei Sounds of Subterrania.