Fragmente

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Simon Hawemann, Nightmarer.

Keine halben Sachen.

Nightmarer nennt sich das dissonant-aufwühlende, düster-zersetzende Nachfolgeprojekt Simon Hawemanns und Paul Seidels. Die Herren sind bekanntlich dafür verantwortlich, mit Gitarre und Schlagzeug die Songwriting-Feder bei den Berliner Szenekritikern von War From A Harlots Mouth von Lärm zu Wahnsinn geführt zu haben. Und werden von Kritikern der Szene zurecht dafür vergöttert.
Mit „Chasm“ steht die Veröffentlichung der ersten EP Nightmarers ins Haus. Perfekte Gelegenheit also, um über den Untergang War From A Harlots Mouths und die Wiederauferstehung Nightmarers zu sprechen. Und kein einziges gutes Haar am versauten, degenerierten Haupt des Risiko-unfreudigen Musik-Business und seinen einfältigen Jüngern zu lassen.

Simon Hawemann. Gitarrist und Mastermind von Nightmarer.

Herr Hawemann, Chasm klingt wie die Fortführung dessen, was Sie und Seidel auf „Voyeur“, der letzten Platte von War From A Harlots Mouth, gestartet haben. Wieso mussten Sie dafür erst eine neue Band gründen?
Destroy - Erase - Improve! Ich bin sehr stolz auf Voyeur. Wir haben War From A Harlots Mouth zu einem Zeitpunkt beendet, an dem wir unseren musikalischen Höhepunkt erreicht, uns aber gleichzeitig in einer Sackgasse befunden haben. Aber das sind trotzdem zwei getrennte Dinge. Das Ende von War From A Harlots Mouth war einfach unvermeidbar.
Ich hatte aber zu keinem Zeitpunkt vor, mit dem Musik machen aufzuhören. Paul ging es genauso und wir teilen nicht nur die Leidenschaft, sondern auch ziemlich konkrete musikalische Vorlieben, von daher mussten wir da nicht lange überlegen. Wir haben ehrlich gesagt schon vor dem offiziellen(!) Ende von War From A Harlots Mouth angefangen an Songs zu arbeiten.

Was gab also den Ausschlag für das Ende der Band? Sie hatten durchaus Erfolg und gerade mit Voyeur eine noch extremere Ecke erschlossen. Mit Season of Mist stand auch ein erfahrenes, passendes Label im Hintergrund.
Es gab viele Gründe, War From A Harlots Mouth zu beerdigen. Wir waren es einfach leid in einer "Musikszene" festzuhängen, die sich seit Jahren in die entgegengesetzte Richtung von uns entwickelte. Ich denke wir sind uns immer treu geblieben und, wenn überhaupt, zunehmend extremer und düsterer geworden. Während überall um uns herum das Gegenteil passierte. 

Irgendwann hat das nicht mehr zusammen gepasst und schlicht und ergreifend weniger Spaß gemacht. Ich bin in erster Linie Fan und in zweiter Linie Musiker. Ich will also mit Bands spielen, die mir gefallen - nicht mit irgendwelchen Schrottbands, für die ich mich schon aus der Entfernung fremdschäme. Und das ist immer öfter der Fall gewesen. 

    "Ich will nicht mit Bands spielen, für die ich mich schäme."

Während wir also musikalisch extremere Sphären erschlossen haben und mit Season of Mist durchaus das richtige Label am Start hatten, hat Voyeur trotzdem kaum die richtigen Leute erreicht, da uns diese in einer für sie uninteressanten Schublade abgelegt hatten. Als Musiker ist das eine harte Pille zu schlucken. Als Fan kann ich es aber nachvollziehen.

Herr Hawemann, woran liegt Ihrer Meinung nach das Hauptproblem der Labels?
Es werden kaum Risiken eingegangen. Viele Labels wollen nur noch Bands signen, die schon den Hype mitbringen. Hype ist vor allem mit oberflächlicher Scheiße zu generieren. Diese hat so sehr das Spielfeld übernommen, dass sie den Underground zerstört hat, da die ganzen kleinen Leidenschaftsveranstalter auch keinen Bock auf sowas haben. Ohne aktiven Underground kannst du als kleine Band wenige Shows spielen und somit deine Musik in der realen Welt nicht unter die Leute bringen.

"Oberflächliche Scheiße hat den Underground zerstört."

Wenn du heute jemanden erreichen willst, machst du mit deiner belanglosen Metalcore Band am besten ein Pop Cover und hoffst auf hohe Klickzahlen auf YouTube. Das dabei nicht viel Substanz und Niveau herauskommt, erklärt sich, denke ich, von selbst. Aber wenn das aufgeht, sind die Chancen gut, dass sich ein Label für dich interessiert. Selbst Bands, deren Video hin und her geschickt wird, weil sich die Leute lustig darüber machen, entwickeln irgendwann eine Eigendynamik und erreichen so hohe Zugriffszahlen, dass sie für die Industrie interessant werden. Das ist alles nur noch grotesk und ich kann das weder Ernst nehmen, noch respektieren.

Die Musikindustrie ist außerdem von vorn herein so strukturiert, dass du als Musiker der Angeschissene bist. Mir ist kaum eine Branche bekannt, in der der Arbeitgeber weniger verdient als der Arbeitnehmer. Und ich sehe mich in diesem Verhältnis definitiv als Arbeitgeber. Ohne meine Musik hat das Label nichts zu veröffentlichen und der Booker keine Tour zu buchen. Diese Leute arbeiten, weil ich etwas erschaffe. Dennoch verdienen sie alle daran ungleich mehr als die Musiker.

"Das ist alles nur noch grotesk."

Was unterscheidet Nightmarer nun also von War From A Harlots Mouth?
Wir müssen keine großartige Selbstfindungs-Phase mehr durchmachen. Nightmarer ist eine Band, die von Anfang an eine sehr konkrete Vision hat. Es liegen zehn Jahre zwischen der Gründung beider Bands. Eine Dekade, in der wir uns menschlich und musikalisch weiterentwickelt haben. Und das hört man. Statt Genre-Crossover ist das Nightmarer Material deutlich fokussierter und klarer im extremen Metal zu verorten. Während das bei War From A Harlots Mouth eine Komponente war, die über die Jahre Schritt für Schritt an Relevanz gewonnen hat, neben den ursprünglichen Mathcore- und Grind-Einflüssen.

"Als Musiker bist du der Angeschissene."

Sie leben in Tampa, Florida. Herr Seidel in Berlin. Wie gestaltet sich Ihr Songwriting-Prozess?
Wie auch schon für Voyeur, finden das Songwriting und die Vorproduktion in meinen Sludge Studios statt, welche mit mir in die USA umgezogen sind. Natürlich kann Paul jetzt nicht für eine Stunde vorbeikommen, um mit mir an Songs zu arbeiten. Er fliegt aber im Juni für drei Wochen her, damit wir einen Mammut-Anteil des Nightmarer Debüts schreiben können. 

Ansonsten bin ich etwas mehr auf mich selbst gestellt und schreibe Songs mit mehr oder weniger rudimentärem Drum-Programming, schicke sie Paul und er überarbeitet das Material. Manchmal schickt auch er etwas, was und ich übertrage das dann auf die Gitarren.

Paul Seidel. Schlagzeuger und Songschreiber bei Nightmarer.

John Collet von Success will Write Apocalypse Across the Sky liefert die Vocals auf Chasm. Wie kam der Kontakt zu Stande?
Wir sind 2009 mit SWWAATS auf der Thrash & Burn Tour in Europa unterwegs gewesen und seitdem gute Freunde. Es ist ehrlich gesagt relativ selten, dass man mit Musikern aus anderen Ländern nach einer Tour lange befreundet ist. Aber der Kontakt zu John war über all die Jahre regelmäßig und sehr persönlich.

Stammen die Texte zu Chasm aus seiner Feder? Inhaltlich scheinen sie ähnliche Themen zu behandeln wie War From A Harlots Mouth.
'Ceremony of Control' ist überwiegend von mir, 'Vessel of Nausea' hauptsächlich von ihm. Wir schreiben auch immer mal zusammen Texte. Und ich denke, so wird es auch weiter gehen. Bei War From A Harlots Mouth habe ich am Ende fast alle Texte geschrieben. Einen Muttersprachler mit einer ähnlichen Vision in der Band zu haben, hilft natürlich und nimmt mir etwas Arbeit ab.

"Ich habe am Ende fast alle Texte selbst geschrieben."

Neben Nightmarer produzieren Sie mit Sludge Studios verschiedenste Bands. Soll Nightmarer zur tourenden Band werden? Oder konzentrieren Sie sich auf den Produktions-Aspekt?
Nightmarer soll zur tourenden Band werden, ja. Das ist für mich ein kreativer, idealistischer und emotionaler Output, während Sludge Studios eher ein Job ist. Ich versuche, mich da wieder mehr auf Mastering zu fokussieren, da es mir mehr Spaß macht und auch mehr Platz fürs anderweitig Kreativsein lässt. Andere Bands aufzunehmen und zu mixen, ist sehr zeitintensiv und Zeit brauche ich jetzt vor allem für das Debüt von Nightmarer. Ein paar Mastering Jobs passen aber immer dazwischen. 

Das Vinyl-Release von Chasm musste dank Produktions-Engpässen, ausgelöst vom Record Store Day, nach hinten verschoben werden. Sie gelten selbst als großer Vinyl-Sammler. Wie stehen Sie dem RSD gegenüber?
Die Grundidee ist cool, aber die Realität hat damit nicht mehr viel zu tun. Der Record Store Day ist jetzt vor allem das Spielfeld der Major Labels, die den Markt mit Reissues überfluten, die es oft schon vorher in unzähligen Pressungen gab, ABER NOCH NICHT EXKLUSIV IN GELB! Daraus resultieren einerseits Engpässe in der Produktion für kleinere Künstler, die neue Musik veröffentlichen wollen. Andererseits hat der RSD eine Abzockerkultur erschaffen, die Ihresgleichen sucht.

Diese Leute rennen zur Öffnung in die Läden, schnappen dir die begehrtesten Releases vor der Nase weg und schmeißen sie, kaum aus der Tür, für das Fünffache auf eBay. Dort siehst du schon am Photo, wie ungeduldig diese Typen in ihrer Gier sind: Viele der eBay Listings kommen mit Photos, die direkt aus den Fahrersitzen von Autos hochgeladen wurden. Diese Schweine fahren nicht mal mehr nach Hause, um dich abzuziehen.

"Diese Schweine fahren nicht mal mehr nach Hause, um dich abzuziehen."

Zum zehnjährigen Jubiläum von War From A Harlots Mouth habt ihr gerade das Vinyl-Release der Falling Upstairs-EP angekündigt. An was denken Sie aus dieser Zeit am liebsten zurück?
Wie organisiert, leidenschaftlich und vernetzt der Underground damals war. Jeder kannte jeden und du konntest jedes Wochenende Shows spielen. Da kamen oft fast ausschließlich regionale Bands zusammen und trotzdem nicht selten bis zu über 300 Kids. Einfach weil alle Bock hatten. Das existiert in dieser Form nicht mehr und ich bin, wie bereits erwähnt, davon überzeugt, dass daran die Verwässerung der Musik speziell in dieser Szene verantwortlich ist. Für viele Kids reicht das Interesse wahrscheinlich nicht mehr über ein Mal im Jahr „Never Say Die!“ hinaus.

Wird es noch weitere Specials geben?
Ich denke nicht. Das Jubiläum ist ein guter Anlass, das damalige Material nochmal gesammelt auf meinem Lieblingsformat zu veröffentlichen, aber das reicht dann auch. Man muss nicht ewig in der Vergangenheit wühlen.

Nachrichten zu Folge wird nach Chasm eine LP folgen. Veröffentlich werden soll sie auf „einem größeren Metal-Label“. Gibt es bereits nähere Infos zur LP?
Der Schreibprozess ist in vollem Gange und hoffentlich gegen Herbst abgeschlossen. Ich fliege im September/Oktober für ein paar Wochen nach Berlin. Bis dahin hätte ich die Platte gern zum Mix abgegeben.

Wie hat sich die Label-Suche gestaltet?
Wir befinden uns in der Schlussphase der Verhandlungen mit einem Label, das auf beiden Seiten des Atlantiks sehr gut aufgestellt ist. 
Ich will ehrlich sein: Wir haben den Vorteil, in Bands gespielt zu haben oder noch zu spielen, die Alben auf namhaften Metal Labels veröffentlicht und diese international betourt haben. In zehn Jahren sammelt sich einiges an direkten Kontakten an und man muss nicht den traditionellen Weg gehen, über den eine junge, unbekannte Band ihre Demos bei einem Label einschickt. Am Ende hilft aber all das auch nicht weiter, wenn das Material nicht gut ist. 
Im Alter von über 30 ist das auch alles anders als vor zehn Jahren. Die Ehrfurcht vor den Labels ist weg und man spricht mehr auf Augenhöhe miteinander. Mit Anfang 20 unterschreibt man irgendeinen Vertrag und lernt dann in der Konsequenz, was alles daran hängt und wie es sich auf den Band-Alltag auswirkt. 

Abschließend: Was ist das langfristige Ziel von Nightmarer?
Wir haben eine konkrete Vision für die Band und werden dementsprechend in vielen Bereichen selektiver vorgehen, als wir das vielleicht mit unseren alten Bands gemacht haben. Wir wollen regelmäßig Material veröffentlichen und auf Tour gehen. Aber es muss passen. Keine halben Sachen.

Wir danken Herrn Hawemann für das Gespräch. Eine Kritik zu Chasm lesen Sie hier. Die Platte, die wir Freundin und Freund extremer Musik ans Herz legen wollen, bestellen Sie hier.