Fragmente

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Colin H. van Eeckhout, Amenra. (GER)

Eine offene Wunde, ein glühender Schrei, eine außerkörperliche Erfahrung. Die Kunst und die Performances von Amenra wurden bereits als vieles bezeichnet. Aber niemals als etwas Seichtes. Die jüngste Opfergabe der Gruppe an das Publikum, Mass VI, fügt ihrem Tagebuch der Ergründung dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein, ein weiteres Kapitel hinzu. Eines, das in der Musikwelt Seinesgleichen sucht.
Wie den meisten ihrer Veröffentlichungen, wohnt MassVI eine Dualität inne. Diesmal ist die kontrastierende Verbindung zwischen Liebe und Schmerz in die Topoi des Albums eingenäht. Colin H. van Eeckhout, der Sänger der Band, hat eine besondere Beziehung zu Schmerzen: So übt er sich immer wieder in Body Modification – auch live. Wir haben uns mit ihm darüber unterhalten, was psychologischer und physischer Schmerz für die Band und für ihn als Mensch bedeutet – und was das wiederum für Fans bedeuten kann.

"Keine Liebe ohne Schmerz. Kein Licht ohne Dunkelheit.", ist ein Zitat, das im Zusammenhang mit Ihrem neuen Album veröffentlicht wurde. In früheren Interviews haben Sie erwähnt, dass Ihrem Sohn vor dem Schreibeprozess für das neue Album ein Tumor aus dem Kopf entfernt wurde. Wie sind sie mit dieser Situation umgegangen? Ist daraus das obige Zitat entstanden?
Ich glaube tatsächlich, dass es keine Liebe ohne die Präsenz von Schmerz geben kann. Wie ich damit umgegangen bin ... woran ich mich lebhaft erinnern kann, ist die Liebe und der Support, den ich von Menschen bekommen habe, die Amenra und CHVE online verfolgen. Ich habe es gebraucht, Kontakt aufzunehmen und in Bezug auf das Thema mein Herz auszuschütten. Und damals hat es mir wirklich sehr viel bedeutet. Es hat mir geholfen, daran zu glauben, dass all diese positiven Gedanken helfen würden, die Prozedur erfolgreich verlaufen zu lassen. Vor ein paar Wochen erst hat die zweite Operation stattgefunden.
Diese Hilflosigkeit, die Frustration, der Kummer und alles andere sind natürlich in die Texte der neuen Songs eingeflossen. Was auch immer ein Teil von mir ist, wird automatisch ein Teil von Amenra. Das wurde mein Teil unserer gemeinschaftlichen Geschichte. Wie alle anderen Mitglieder ihren Teil beigesteuert haben. Zusammen formen sie Amenra.

Das hat sicher Spuren hinterlassen.
Das hat es und das tut es immer – zumindest sollte es das. Ich meine, ich hatte zuvor bereits Erfahrungen, die meine Sicht auf das Leben nachhaltig verändert haben. Aber ich glaube, Menschen brauchen eine Art Mahnung, Erinnerung von Zeit zu Zeit. Diese Erinnerungen kommen in der Form von Unglück. Ich versuche, mehr im "Jetzt" zu leben und mich nicht zu sehr um die Zukunft zu sorgen. Ich glaube, dass meine Zeit auf der Erde limitiert ist. Diese Situation hat mich dazu gebracht, mich an den Momenten, die ich mit meinen Liebsten habe, umso mehr zu erfreuen. Zur selben Zeit rüste ich mich für alles, was da noch kommen mag.

Ist Schmerz, der mit der Liebe zu einer anderen Person zusammenhängt, ein Gefühl, das sich seit der Geburt Ihres Sohnes intensiviert hat?
Natürlich, für mich fühlt es sich so an. Aber ich denke, das muss jeder persönlich für sich entscheiden. Ich bin die Art von Person, die in Allem Traurigkeit sieht – auch in den schönsten Dingen des Lebens, wie Kindern. Oder Liebe.

Vom Beginn der Gründung der Band an waren Schmerz und Dunkelheit eines der großen Themen der Musik und der Inhalte Amenras. Im Rückblick: Wie hat sich Ihr Umgang mit Schmerzen verändert?
Ich weiß gar nicht, ob er sich so sehr verändert hat, um ehrlich zu sein. Schmerz wurde einfach Teil meiner Persönlichkeit. Ich glaube jedoch, dass wir es mittlerweile besser schaffen, darum herum zu arbeiten. Je älter man wird und je mehr Schmerzen man durchstehen musste, desto mehr verändert sich der Vergleichsrahmen. So denkt man dann, dass man die Dinge "realistischer" sehen kann und nicht mehr übertreibt.

"Ich glaube, dass ich auf der Bühne jemandes Schmerz verkörpern kann. Ich kann materialisierter Schmerz sein, der in jemand anderem wohnt."

Ich spreche nun sehr persönlich: Wegen verschiedener schmerzhafter Situationen, die damit zu tun haben, wie ich aufgewachsen bin, ist mein Oberkörper mit Narben überzogen. Ich verabscheue sie. Nicht nur finde ich sie hässlich – sie erinnern mich auch ständig an diese früheren Schmerzen. Im starken Kontrast dazu, zumindest von außen betrachtet, fügen Sie sich oft selbst Schmerzen zu. Schmerzen, die manchmal gar Narben hinterlassen. Was bedeuten diese Narben für Sie?
Die Narben erinnern mich daran, dass die Wunde geschlossen ist, dass der Schmerz vorbei ist. Sie erlauben es mir, diese Dinge hinter mir zu lassen. So will ich sie sehen. Ich mag es natürlich nicht, wenn andere Menschen mich dafür abschätzig ansehen, aber ich bin für das Urteil anderer auch blind geworden. Ich bin, wer ich bin, und ich versuche, so stolz wie möglich darüber zu sein, was von mir übrig geblieben ist.

Photo by Stefaan Temmerman.

Sehen Sie Ihren Körper als ein Kunstwerk? In diesem Sinne: Wie verstehen Sie "Schönheit" oder "Ästhetik" in Bezug auf Ihren Körper?
Ja. Ohne prätentiös wirken zu wollen. Ich sehe meinen Körper als den Lehm, mit dem ich arbeite. "Schönheit" und "'Ästhetik" sind nicht die richtigen Begriffe hier, aber mir mangelt es an Alternativen. Ich sehe Body Modification als einen Weg, mich auszudrücken. Für mich ist es körperliche Poesie.

"Wir benutzen unsere Körper, um mit dem Schmerz zu arbeiten."

Haben Sie Ihren Körper auf eine Art modifiziert, die Sie heute bereuen?
Tattoos haben einen temporären Charakter, würde ich sagen. Ich glaube, dass sich die Menschen, dass sich Geschmäcker weiterentwickeln. Ich werde nicht von Reue sprechen. Aber wäre mein Körper heute eine leere Leinwand, würde ich sie vielleicht anders bemalen.

Haben Sie das Gefühl – im Kontrast zu Schmerzen, die mit Liebe zu anderen Menschen zusammenhängen – dass sie Schmerzen, die Sie sich selbst zufügen, unter Kontrolle haben?
Nein. Schmerz ist etwas, das Menschen nie kontrollieren werden. Man kann sie vielleicht eindämmen – mit Sedativen oder Ähnlichem. Aber der Schmerz wird am Ende immer gewinnen, wenn sein Ausmaß deine Kapazität übersteigt, damit umgehen zu können. Krankheit, Krebs, Schmerz ist immer der Endgegner.

Photo by Jan Opdekamp

Ist es vielleicht eine Art zu "lernen", wie ihr Körper damit umgeht, um so der Kontrolle von Schmerzen im Leben näher zu kommen?
Ich bin mir sehr sicher, dass ich meinen Schmerz nicht kontrollieren kann. Das ist alles nicht so einfach. Ich fühle auch gar nicht die Notwendigkeit, ihn zu kontrollieren. Für mich macht er einfach Sinn. Er ist Teil der Geschichte, die wir erzählen. Er visualisiert "was wir tun". Wir benutzen unsere Körper, um mit dem Schmerz zu arbeiten.

Der Name Amenra beinhaltet eine religiöse Referenz, die Band benutzt religiöse Ikonografie und das um sie herum existierende Kollektiv trägt den Namen "Church of Ra". In der Religion beschreibt Selbst-Kasteiung einen Weg, um "Höheres" oder "Erleuchtung" zu erlangen. Sehen Sie das ähnlich?
Ich glaube, dass ich auf der Bühne jemandes Schmerz verkörpern kann. Ich kann materialisierter Schmerz sein, der in jemand anderem wohnt. Opfer zu bringen, diesen Schmerz gemeinsam auf der Bühne hinter sich zu lassen, ist Teil des Heilungsprozesses, von dem wir gesprochen haben.

Es ist unglaublich einfach, Schmerzen zu betäuben: Mit Drogen, Alkohol, Zynismus, Selbstbetrug. Ihre Kunst, Ihre Texte und Ihre Live-Show wirken vollkommen echt. Wie schaffen Sie es, die einfachen Auswege zu umgehen und Ihrem Schmerz ehrlich ins Gesicht zu blicken?
Ich bin seit 25 Jahren Vegetarier und lebe Straight Edge. Es kommt mir einfach nicht in den Sinn, vor Schmerzen zu fliehen. Das bringt nichts. Es hat sich jahrelang bewiesen, dass diese Mittel keine Lösung sind. Dafür bin ich zu vernünftig. Mir ist bewusst, was passiert. Vernunft ist die Basis für meine Entscheidungen.

In früheren Interviews haben Sie erwähnt, dass es mit Amenra Ihr Ziel ist, Ihre Geschichte so ehrlich wie möglich zu erzählen. Die Intensität Ihrer Live-Shows und die Reaktionen darauf unterstreichen, dass Sie damit sehr erfolgreich sind. Ist es manchmal schwierig für Sie, gewisse Songs zu performen, da sie von persönlichen – und schmerzhaften – Erlebnissen handeln?
Es ist eher physisch anstrengend als psychologisch. Nach all diesen Jahren habe ich einen Platz für all diese Dinge gefunden. Unsere Songs zu performen ist also eher so, als würde man in einem Tagebuch lesen und ich schließe daraus, dass ich durch all diese Passagen hindurch stärker geworden bin.
Unsere Live-Shows sind wahrlich ein Heilungsprozess. Sie machen es einfacher, mit manchen Dingen umzugehen. Sie vielleicht von einer anderen Perspektive zu sehen. Kummer und Traurigkeit können nicht mit anderen geteilt werden. Das sind Dinge, mit denen wir selbst fertig werden müssen. Dennoch glaube ich, dass es leichter ist, wenn man ehrlich und offen damit umgeht. Das macht es einfacher, Schmerzen zu ertragen. 

Wir danken Colin H. van Eeckhout viele Male für dieses Gespräch. „Mass VI“ von Amenra erscheint bei Neurot Recordings. Die Produktion lief unter der Aufsicht von Billy Anderson, der unter anderem für seine Arbeiten mit Neurosis, Sleep oder Eyehategod bekannt ist. Das Cover-Artwork stammt aus der Hand des Künstlers Stephan Vanfleteren. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Sowie das Eintauchen in das Denken und Handeln der Band. Ob in Form von Platten, Bildern, Texten oder Konzerten. Es ist jede Sekunde wert. Dieses Gespräch ist auch auf Englisch erschienen. Sie können es hier lesen. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Sun Worship hören.