FERNs selbstbetitelter Extended Player.

Die Ecken wabern. Die Kanten zerfließen. Was fest, ward flüssig. Was flüssig, längst im Äther. Was zählbar, wird unzählbar. Alles bleibt unerzählbar. Den Blick in den Spiegel erwidert jemand Fremdes. Etwas Fremdes. Etwas, das Du bist, weil Du es nicht bist. Etwas, das nicht Ich sein kann, aber auch nicht aus dem Wir kommt. Sondern aus dem Du, mit dem Du dein Leben teilst. Das Schwarz offeriert dir die Hand. Du schlägst ein. Ergibst dich dem Blick. Tauchst ein in die Schatten.
Dort, an dem Ort ohne Namen. Zwischen Gestern und Morgen. Da wabert es. Da klingen die Glocken, wie sie dir flüstern. Da springt der Ablauf, wie es ihm passt. Da läuft das Rad, wie es dir zu laufen gebietet. Da zieht es weiße Spuren in die graue Asche. Da leuchtet kein Stern. Da liegt der Gedanke, wo du ihn nicht denkst. Dort liegt das Licht, wo du es nicht sehen kannst. Nicht sehen konntest. Sieh - das Rad leuchtet dir den Weg. Die Glocken flüstern es dir. Der Ablauf lässt dich ankommen. Wo du dich niemals angekommen geglaubt. Wo du dem Licht entsagst. Um das Dunkel Dein zu machen. Wo du dich verabschiedest von dir selbst. Um dein nächstes Ich zu entdecken. Und das nächste.

Paul Seidel begibt sich mit FERN auf die ontologische Reise nach allen Phänotypen seiner Existenz. Auf die Suche, jenes Ich zu ergründen, entdecken und zu entwickeln, was dem Ich, das ihm am nächsten steht, am fernsten ist. Das Boot, das er dafür mit begabter Produzentenhand und seinen Unterstützern Jan Kerscher und Peter Voigtmann zimmert, führt ihn, gezogen von der vielseitigen Kraft seiner Gesangsstimme, über die Ränder des Industrial, über Rhythmen fernab längst ergründeter Gefilde, über Flächen von Synthies, an im Schatten des Selbst verborgen geglaubte Melodien. Mal langsam treibend, mal hektisch ausschlagend, doch stets begradigt vom Anker seines songschreiberischen Talents. Die Amplituden des Ozeans, sodann, erhöhen und senken sich ähnlich denen der frühen Nine Inch Nails. Schlagen düster aus, plätschern zu melancholischem Klavier. Nur, um dann – Beton gießenden Maschinen gleich – gefühllos industriell auf und ab zu fuhrwerken. Die Reise ins Unbekannte, sie bleibt für's erste das Ziel.
Denn diese EP zeigt einen Künstler, der sich davon freischwimmt – sein Selbst aus jenen Ketten befreit, die hinter ihm liegen. Das bedarf Mut. Deswegen wäre es dem Künstler gegenüber auch unfair, FERN nur im Vergleich zu seinen zahlreichen vorherigen (auch von Fragmente teilweise noch immer in schwerer Rotation gehörten) Projekten zu begreifen. Denn er strebt an einen Punkt, an dem es ihm vollkommen freisteht, sich immer wieder neu zu erfinden. Dem gebührt Respekt. Nicht zuletzt, weil sich diese Suche als eine der schönsten Existenzergründungen des noch jungen Herbsts entpuppt.
Die selbstbetitelte EP FERN hat die Band in Eigenregie veröffentlicht. Aufgenommen wurde sie in den Ghost City Recording Studios. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Auch, aber nicht nur, weil die Vinyl-Version in einer äußerst ansehnlichen, limitierten "Black-Merge"-Version verfügbar ist. Weiters wollen wir Ihnen eine Auseinandersetzung mit der Band War From A Harlots Mouth wärmstens an die toten Herzen legen. Auch Nightmarer, WassBass und The Ocean seien in diesem Atemzuge genannt. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Sun Worship hören.