Fragmente

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Sonnenuntergang über den Ruinen von Klatsch von Erregung Öffentlicher Erregung.

Schattenplatz an der Sonne.

Dort in der Seitengasse zur Hauptstraße. Wo Maschendrahtzäune die billig erbauten Reihenhäuser säumen. Wo der Asphalt sich unter der Kraft der Sonne stöhnend aufwölbt. Wo kein Vogelgezwitscher zu hören ist. Wo einen die Hitze wie eine Mauer begleitet, in die man beständig laufen muss, um voran zu kommen. Dort, wo eines der wenigen vormals grünen Rasenstücke nun der Prärie eines Italo-Westerns gleicht. Dort, vor einem unachtsam hingeworfenen, verrosteten Fahrrad. Die Karte in den Vorderspeichen hat ihr Weiß längst gegen ein vergilbtes Gelb getauscht. Dort tut sich ein Eingang auf. Begleitet von dem fernen Rauschen des beständigen Verkehrs an der Hauptstraße, läuft eine Seele durch dieses Loch im Zaun, folgt diesem nur provisorisch mit Steinplatten gepflasterten Weg. Die Sonne steht tief. Ein paar Palmen lauern wahllos in dem Stück verbrannter Erde, das sich mal Garten genannt hat. Dort vorn steht ein Haus. Ihm fehlt der zweite Stock, gar der Keller und eine feste Grundmauer. Doch der türkisblaue Bungalow bietet die Flucht. Denn in einer Ecke der Hauswand tut sich ein Schattenplatz auf. Die Seele lässt sich nieder. Und flieht.

Flieht im Geiste über die Ruinen von Klatsch. Vor den Erwartungen des Selbst. Vor der Eindeutigkeit. Der Hermeneutik. Denn dort, in der Zwischenexistenz, ist alles erlaubt. Dort tönt der Deutschpunk der Vergangenheit. Der aus Wave geknüpfte Synthie-Teppich der Zukunft. Dort hallt es. Dort ist nichts geschönt. Dort tönt Erregung Öffentlicher Erregung. Sie nehmen die von der Beobachtung der Sonne geschundene Seele in ihre Obhut. Erlauben ihr das Goutieren klischeefreier Eingängigkeit. Erlauben ihr den Größenwahn. Entführen sie mit dem schrillen, kraftvollen Organ Anja Kastens in den Flug zwischen Planeten. Wirbeln sie herum mit den von Philipp Tögel bedienten Synthies. Bringen sie schließlich mit der Triebfeder aus Michael Schmids Schlagzeug und Laurens Bauers Bass zurück zur Erde. Zerschneiden die Struktur der Bedeutung mit den zugleich fernen wie nahen Einsprengseln aus Michael Hagers Gitarre. Ein Traum, der bewusster denn je durchlebt wird. Während das Bewusstsein im Traum wandelt. Unmöglich? Nichts ist hier unmöglich.

Hier gibt es kein Richtig und kein Falsch. Hier wird die Existenz als Ganzes angezweifelt. Hier wird exaltiert nach mehr Romantik gefragt. Hier hat die Lust auf Eskapismus ihren Platz. Die Verzweiflung, der Rausch. Gebettet in das Gebaren eines David Lynch-Soundtracks ist hier alles denkbar. Wenn Erregung Öffentlicher Erregung diesen Schattenplatz besetzen. Die blutende Seele, sie beginnt zu heilen. Beginnt, sich von den Zwängen der Gesellschaft freizumachen. Von den selbst gezimmerten Erwartungen an das Leben. Von den Verhaltenskodizes, von der Adidas Stan Smith-Angepasstheit. Von der schulterzuckenden Amazon Prime-Ablehnung einer mit beiden Beinen vertretenen Meinung. Von der auto getunten Verneinung wütender Musik. Wenn auch nur für die Dauer eines Sonnenuntergangs.

Mit "Sonnenuntergang über den Ruinen von Klatsch" gelingt Erregung Öffentlicher Erregung all das, was einer jungen Band aus Berlin und Hamburg mit ihrer ersten EP gelingen muss. Sie ist an den richtigen Stellen unpoliert, bietet an anderen Stellen gnadenlos funktionierende Hooks. Ist in ihrer Kürze gerade so lange, dass nach dem Durchlauf unweigerlich der Wunsch auf mehr folgt. Konnte die Band Anfang des Jahres bereits im Vorprogramm von Der Ringer überzeugen, gelingt ihr dies nun erneut. Dies spricht zweifelsohne für das Händchen der Leute von EUPHORIE. Und natürlich für die Erwartungshaltung an alles, was aus dem Hause EÖE noch kommen wird.

"Sonnenuntergang über den Ruinen von Klatsch" von Erregung Öffentlicher Erregung ist bei dem Hamburger Label EUPHORIE erschienen, das so illustre Namen wie Trümmer, Der Ringer oder Ilgen-Nur sein Eigen nennt. Wir empfehlen wie immer den legalen Erwerb und erquicken uns inzwischen an dem Gedanken an einen Longplayer der Musikgruppe. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören.