Fragmente

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Die sterbende Wespe.

Auslassung über “Alice” von KARIES.

Fortgeführt von: Links im Bus.

Ein Bus rollt durch Nebenstraßen. Gefüllt ist er mit Seelen. Sie schauen nach draußen. Eigentlich. Denn in echt schauen sie in die Leere ihrer Existenz. In das Loch, das dort wartet, wo keine Ablenkung ist. Zwischen ihnen und ihren Löchern, da fliegt etwas. Da leidet etwas. Eine Wespe klopft mit ihrer Stirnplatte gegen eine unsichtbare Mauer. Die 15 mm dicke Schicht der bis unter die Decke des Busses gehenden Glasscheibe steht zwischen der Wespe und ihrer Freiheit. Sie wird sterben, diese Wespe. Ihre Königin ist tot. Ihr Nest hat sie längst verlassen. Es existiert nicht mehr. Genau wie die schützende Gemeinschaft der Wespen ihres Staates. Sie hat sich aufgelöst. Jede Wespe flog seines Weges. Diese eine trieb der Hunger nach Nektar in diesen Bus. Die automatisch schließende Tür besiegelte dann ihre Gefangenschaft in der neuen Kommune der leeren Existenzen. Irgendjemand hört so laut Musik auf einem Smartphone durch Kopfhörer, dass die Schwingungen die Wespe kurz irritieren. Seitdem kämpft sie. Sie weiß es noch nicht, aber das Glas ist undurchdringbar. Dabei wirkt es, als könnte man einfach durchfliegen.

Der Bus überholt. Die Wespe bekommt davon nichts mit. Sie scheint den Blüten der Bäume so nah. Obwohl deren Blätter längst vom Grünen ins Gelbe und Rote abgestorben sind. Auf und ab fliegt sie. Auf und ab. Summt über die Stille des Busses und das stumme Rauschen des Verkehrs. Unhörbar ist ihr Schlagen gegen die Glaswand. Hörbar nur der treibende Beat der Musik, die durch die billigen Kopfhörer schallt. Geschenkt. Ihr Auf und Ab und Hin und Her ist der Tanz zu dem Beat, den man mehr spürt als wirklich hört. Freudig wirkt sie. Fröhlich, ob der letzten untergehenden Sonnenstrahlen, die das fallende Laub bescheinen und noch etwas lebendig aufblinken lassen. Gar fidel wirkt ihr Flirren zum Rasen des Busses. “Im Zweifel immer links, ist doch klar.”, denkt der Busfahrer auf den Nebenstraßen. Während die Existenzen reden. Aber über was? Die Wespe wird es nie erfahren. Sie tanzt weiter gen Untergang.

Vor ihr vergehen die Bäume. Vor ihr vergeht die Stadt. Der Beton, eisenhart. Die Kälte fast zu greifen. Wäre da nicht der Schein von Herzlichkeit, der mit den Strahlen der Sonne kommt. Wahrlich, es ist nur ein Schein. Ein letztes Aufbäumen des Frohsinns. Ist er untergegangen, ist das Süße dahin und das Bittre bleibt. Die Steinfrüchte verdorben, die Pollen vom Wind hinfortgetragen, die Quelle des Nektars versiegt. Die Wespe besiegt. Aber nein, ihr Kampf ist noch nicht zu Ende. Sie bäumt sich auf. Gegen rote Wolken, weiße Rosen. Gegen das Dahinsiechen der kurzen Hosen. Sie steppt in der Luft. Sie dreht sich um ihren eigenen Kreis. Sie rotiert im Rhythmus des Zusammenbruchs. Die Schwingung schickt einen Impuls von ihrem vegetativen Nervensystem aus durch ihren Leib. So stark, er dringt durch ihren Chitinpanzer nach außen. Ihr Caput donnert gegen das Glas. Donnert. Donnert. Sie empfindet nichts. Die Drüsen in ihrem Gehirn drehen durch. Das Ende ist nah. Summ, flirr, summ, flirr. Die Drüse produziert ihr Juvenilhormon. Die Rettung? Nein, die Lehre vom Zerfall. Doch die Wespe fühlt sich wie neu geboren.

Sie wirbelt, sie quirlt, sie kursiert. Der Wahnsinn erfüllt sie. Pulsiert in ihren Ganglien. Strömt fast aus ihrem Thorax. Immer härter, immer lauter. Die Existenzen horchen auf. Blicken zu ihr. Sehen sie da, in der Luft, im Nichts, tanzend ringend gegen ihr Sterben. Und da, sie schlingert. Ihre Lebensfreude wird ihr Verhängnis. Sie sinkt zu Boden. Langsam. Langsamer als gedacht. Sie springt noch, immer wieder, etwas höher, doch es geht bergab. Die Leute blicken aus ihren Löchern hoch zu ihr. Ein Sonnenstrahl schummelt sich durch die unsichtbare Mauer und bricht sich in ihrem Flügelpaar. Es ist ihr letzter. Dann verschwindet er im Dunkel. Die Wespe lässt ihr Leben. Fällt. Und stirbt, als der Bus anhält und die Tür nur ein paar Zentimeter rechts vom Sterbeort der Wespe aufgeht.

Das poppigste Sterben des Herbstes. Auf “Alice” öffnet sich die Band KARIES gegenüber der Populärmusik und wärmt ihre chronische Unterkühltheit mit effektiv eingesetzten Synthies und geradezu furchtbar eingängigen Harmonien auf. Doch behält sich in den Texten von Max Nosek und Benjamin Schröter die krude kryptische und konstant resignierte lyrische Verneinung des generellen Lebenssinns. Gemeinsam mit der Produktion von Max Rieger, die der kalten Schroffheit der früheren Platten die langsam sich erwärmende Schulter des Arrangements zeigt und der erstarkenden Songwriting-Kunst des Quartetts ergibt sich daraus vor allem eine Folge: Durchschlagskraft. “Nebenstraßen”, “Projekt / Aufgabe” oder “Altar” schlagen gerade durch ihre Tanzbarkeit ein wie ein Bombe.

Denn damit lässt die Band die Sinnlosigkeit unseres Daseins von der Resignation in den wirklichen Nihilismus pendeln: Unser Leben ist so sinnlos, dass wir gar nicht erst bedrück zu sein brauchen. Hat man den ersten Schock überwunden, kann man ob der Sinnlosigkeit auch schlichtweg – tanzen. Was bleibt uns im Angesicht des Wahnsinns unserer Zeit auch anderes übrig? KARIES hat eine Antwort gefunden. Und in ein Album gegossen, dass in Deutschland in diesem Herbst seinesgleichen suchen – aber nicht finden wird. Nur vier Jahre nach “Seid umschlungen, Millionen.” ist die Stuttgarter Szene also erneut Geburtsort einer Perle. Und einer Band, die sich auch dann, wenn es um das böse Wort “Pop” geht, vor niemand verstecken wird müssen. Da wird es sogar um unser totes Herz kurz warm. Genau so lange, wie “Alice” läuft.

Nach „Seid umschlungen, Millionen“ und „Es geht sich aus“ ist „Alice“ der dritte Langspieler der Band KARIES aus Deutschland. Recordet, produziert und gemischt wurde er von Max Rieger (All Diese GewaltDie Nerven), gemastert von Ralv Milberg (Éclat). Das Cover wurde gestaltet von Levin Stadler. „Alice“ erscheint auf This Charming Man Records. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr lesen.
Zur Veröffentlichung von „Alice“ spielt die Band KARIES folgende Konzerte an folgenden Orten.
07.11.2018 Wiesbaden – Kreativfabrik
08.11.2018 Köln – Gebäude 9
09.11.2018 Osnabrück – Kleine Freiheit
10.11.2018 Bremen – Lila Eule
11.11.2018 Berlin – Lido
12.11.2018 Dresden – Groovestation
13.11.2018 Leipzig – Ilses Erika
14.11.2018 Chemnitz – Nikola Tesla
15.11.2018 Nürnberg – Künstlerhaus
16.11.2018 Würzburg – Cairo
17.11.2018 Esslingen am Neckar – Komma