Fragmente

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Flucht zur Utopie.

"Open Heart Story" von Luke Howard.

Nehmen wir an, wir befinden uns auf einer Reise. Angetreten, um uns vom Alltag zu befreien. Nehmen wir an, wir flüchten in eine Stadt. In eine laute Stadt. Eine Stadt wie New York. Toronto. Oder etwas (*hust*) europäischer – eine Stadt wie London. Dort angekommen stellen wir fest, dass dieser kalte Nachmittag und die Hektik der Straßen die Gedanken um das, was ist, das was wird und das was hätte sein können nicht zur Ruhe kommen lassen. Fragen nach der Existenz. Nach Stille. Nach Entschleunigung. Auf der Suche nach Stillstand begeben wir uns in ein Café. Um uns herum finden wir nur Schwarz gekleidete Menschen. Wie immer. Wir ordern einen Earl Grey, setzen uns ans Fester und beobachten das Treiben. Gelangweilt von dem Einheitsbrei fällt der Blick durch die feuchtnasse Fensterscheibe in die Realität. Auf die hektisch umher Rennenden. Auf die trübe Eleganz der Stadt, die uns in eine winzige und indifferente Insel transformiert. Auf dieser Insel erscheinen unsere Ängste minimal. Vergessen sind die eigenen Turbulenzen von Rechtspopulismus und überteuertem Wohnraum, vergessen die Suche nach Selbstliebe. Eine holistische Egalität darüber macht sich breit. Die Suche nach einer Antwort auf die wirklich brennenden Fragen, nach irgendetwas, das uns am Leben hält, schält sich in das Empfinden. Fragend bleibt der Blick auf der nassen Straße liegen. Wo ist sie, die nach Utopie strebende Gesellschaft? Eine Frage, die seit Jahrhunderten von der Gesellschaft gestellt wird. Deren Versuch einer Beantwortung bisher jedoch nur in Zusammenbrüchen resultierte. Doch das hält uns nicht ab. Wir suchen weiter. Die Hand greift nach dem Smartphone, findet einen Anfang: Ein Album, das Abhilfe schaffen soll. „Open Heart Story“ von Luke Howard.

Mit „Prelude for a Single Voice“ atmen wir durch. Der Kopf entspannt sich. Das Stück liegt eingebettet in harmonische Klaviertöne, die an die Bach Concerto 1-6 erinnern. Doch leiser und entschleunigter. Howard erweckt die Vision einer zärtlichen Harmonie. Die unseren Atem und unser Gemüt ruhiger werden lässt. Der minimalistische Klang der Dur führt uns zurück zu unserem Selbst. Doch bleibt es nicht bei der Harmonie. Ein magnetisches Moll-Konzept in „In Metaphor Solace“ gibt uns Kraft, die Dinge zuerst mit dem noch instabilen Selbst zu klären. Das Stück nähert sich einer optimistischeren Sicht. Unser fragiles Selbst wird animiert, sich zu reflektieren, um transformiert zu werden. Dies gelingt Howard durch eine vereinfachte Klavierkomposition. Sie ist nicht komplex, nicht quer, sondern wirkt strukturiert. Eine Metamorphose wird eingeleitet, in der wir nicht länger nur lethargisch und verärgert über das Jetzt nachdenken. Im Gegenteil: Die überlagerten Klaviertöne holen uns ab und befreien uns aus unserem Käfig, der Hektik des Alltags. Wir stellen fest, dass wir über unsere Gier, unsere traumatischen Kindheitserinnerungen oder gescheiterten Beziehungen hinweg gehen müssen, um eins mit unserem Umfeld zu werden. Howard schafft dies, indem er ein meisterhaftes Ambiente von Musik kreiert, das uns durch absolute Reinheit das Durchhaltevermögen entwickeln lässt, wieder an Utopien glauben zu können. Kontaminationen wirken vergessen, Romantik wird nicht mehr als ein Irrglaube wahrgenommen, sondern als an eine Tatsache, ein Bedürfnis, das wir benötigen, um unsere Herzen zu öffnen und nicht isoliert auf ein besseres Jetzt zu warten.

Dennoch ist es kein leichter Prozess, den Howard uns in unseren Geist komponiert. „In Praise Of Shadows“ stellt so auch die Substanz dar, die konträr zur Harmonie von „Prelude for a Single Voice“ oder der Struktur von „In Metaphor, Solace“ steht. Das Stück ist getragen von holprigen, erst sehr leisen, dann lauter und aufbrausend werdenden Klavieranstößen. Die dazugehörigen Streicher führen uns zwar zu unserem Innersten, doch färben sie den Klang dunkler als bei anderen Stücken des Albums. Die Emotion, die nun entsteht, ist nicht mehr vergleichbar mit der anfänglichen Leichtigkeit des Albums. Fast apathisch und versteinert lässt uns die Melancholie zurück. Schwer wie Blei kommen wir wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, reflektieren noch präziser, was uns die Klaviertöne im Kontrast der Streicher erfahrbar machen möchten. Weniger verzerrt erscheint nun die Sicht auf die Negativitäten. „In Praise of Shadows“ zeigt uns, dass wir die Dunkelheit, die Melancholie, die Abgründe benötigen, um mit Klarheit und Struktur neue Blicke zu entwickeln. Die Streicher und verkürzten Klavierpassagen bereiten uns damit auf das zentrale Stück der Platte vor.

„Hymn“ ist eine Ode an das Leben. Es bekräftigt unser Selbst mit aufgeladenen Streichern und im Hintergrund wallenden Klaviertönen. Es verzaubert uns, führt uns zur Umarmung einer Utopie, der ein Aktivismus innewohnt. Wie ein warmer Sommerregen das vom Smog getönte Fenster des Cafes der Großstadt reinigt, öffnet „Hymn“ unsere Seele und unser totgeglaubtes Herz. Vergessen sind gesellschaftlichen Dispute, Beziehungsprobleme oder Traumata. Mit „Hymn“ komponiert Howard eine Öffnung gegenüber oftmals als naiv abgestempelter Visionen einer besseren Welt. Fängt Esprit, Glauben und Hoffnung ein und gießt sie in ein Stück Musik, das tagelang im Kopf bleibt.

Die Fragen und Ängste um die Existenz scheinen vergessen. Howards Eskapismus beschreibt einen utopischen Charakter von Musik, der gerade durch die Distanz zur Wirklichkeit die Veränderung der Realität ermöglicht. „Open Heart Story“ lässt uns träumen, spinnen und animiert uns dann, diese Träumereien in die Tat umzusetzen. Er fordert, eins zu werden mit den Tatsachen, die alltäglich passieren und sich nicht zu isolieren. Er kreiert und stärkt ein stabiles Ich, welches das fragile Wir nicht scheut. „Open Heart Story“ kann so auch als Appell verstanden werden, die Unveränderlichkeit des Status Quo nicht zu akzeptieren. Falls Sie ernsthaft daran interessiert sind, dass sich die Welt auch Morgen noch weiter dreht, empfehlen wir Ihnen wärmstens, sich der Strategie Howards zu nähern.

„Open Heart Story“ erschien am 25.05. 2018 bei Mercury KX Records. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Produziert hat es Luke Howard selbst. Mark Gowing gestaltete das von Luke Howard fotografierte Bild graphisch neu. Aufgenommen wurde es in in der Elisabeth Murdoch Hall und der Melba Hall in Melbourne. Das Piano wurde von einem 23-köpfigen Streichorchester begleitet. Zum behutsamen Miteinander empfehlen wir eine Annäherung aus dem Irrweg der Isolation an folgenden Orten:
06.11.2018 Cultuurcentrum Mechelen, Belgien
18.11.2018 Brotfabrik Frankfurt
22.11.2018 Freiheit München
24.11.2018 Elbphilharmonie Hamburg
29.11.2018 Cultuurcentrum Hasselt, Belgien