Fragmente

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Links im Bus.

Stimmen aus der Zwischenwelt zu "Alice" von Karies.

Jetzt stand sie wieder an der Bushaltestelle. Umstände hatten sie hierher zurück gebracht. Ein Leben in Schleifen. In den letzten Wochen hatten sich die Zeichen mal wieder gehäuft. Im Stöbern in alten Kisten hatte sie Nachrichten von früher gefunden, die neben faktischen Inhalten hauptsächlich Bilder von damals aus ihrem Neokortex ins Jetzt befördet hatten. Zufälle hatten Kontakte zu längst vergessenen, oder vielmehr aktuell nicht mehr als relevant zu bezeichnen geglaubten Menschen gebracht, deren Relevanz dann qua gemeinsamer Erlebnisse plötzlich nicht mehr von den Händen zu weisen gewesen war. Doch das wäre vielleicht noch im Sinne mathematischer Wahrscheinlichkeits-rechnungen zu erklären gewesen, nein, da war mehr, das sie an Kreise denken ließ, zum Beispiel die Entwicklung in ihrem Leben, die sie zu Entscheidungen getrieben hatte, zu denen sie dereinst bereits in nahezu exaktem Ablauf von Ereignissen getrieben worden war. Oder die damit verbundenen Gefühle, die im exakten Ablauf so damals empfunden worden waren und an die sie sich nicht erinnern hatte können, weil man sich an Gefühle ja nie wirklich erinnern konnte, sondern nur an die Umstände, die von Gefühlen begleitet werden und die aber dann, wenn sie da waren, plötzlich bekannt schienen – ähnlich einem, aber nicht ganz wie ein Deja-Vu –, aber doch „neue“ Gefühle waren in jenem Sinne, dass die Erlebnisse, auf die sich diese Gefühle dann bezogen ja neu waren, und ein Gefühl ja nicht wie ein Mensch älter wurde und dann und wann wieder zu Besuch kam, sondern de facto eine chemische Zusammensetzung im Gehirn war, wo zwar auch Erinnerungen gespeichert waren, die Gefühle aber nicht, was die ganze Sache äußerst kompliziert und anstrengend machte, woran sie dann hatte denken müssen. Auf jeden Fall hatte sie dann die Entscheidung, die sie zu den Gefühlen getrieben hatte, erneut in diese Gegend, in diese Stadt, in dieses Viertel, in diese Straße, zu dieser Bushaltestelle getrieben, zu diesem Stück Asphalt, auf dem sie so oft gestanden hatte. Zu diesem (sozialen) Raum, der sie damals nicht vor Wind, nicht vor Regen und vor gar nichts hatte schützen können, das bleibende Narben in ihrer Psyche hinterlassen hatte können und dann eben auch tat. Auch nicht vor dem Mann, der nach dem nachmittäglichen Schulkurs in bildnerischer Erziehung, den so gut wie Niemand belegt gehabt hatte und dessen beide Stunden bis in den Abend hinein gedauert hatten, was in den Monaten 10-12 bedeutete, dass es danach längst finster war, den rasselnden Motor seines ehemals weiß lackierten und nun so grau belegt wie alles in dieser Stadt erscheinenden Mercedes dort zum Stillstand kommen hatte lassen, wo sie wartend gestanden hatte und seine Fensterscheibe noch während des Anrollens nach unten gekurbelt gehabt hatte und nach einem Lecken über seine vom draußen in der Kälte rauchen aufgesprungenen Lippen mit unwirklich kehliger Stimme zu ihr gesagt hatte, dass alleine warten um diese Uhrzeit aber gefährlich sei, sie wisse ja nicht ,wer sich in der Stadt so rumtreibe und dass sie doch schnell rein hüpfen solle, er würde sie schnell (die Wortwiederholung hatte sich eingebrannt) sicher nach Hause bringen, worauf sie, mehr erschreckt generell über den Fakt, dass jemand so unerwartet zu ihr gesprochen hatte, als über die Absicht hinter diesem Satz per se, einfach davon gelaufen war und schneller verschwunden gewesen war als eine Anzeigenseite in einem Magazin, in dem man beim gelangweilten Warten beim Frisör blätterte, dessen Versuch aber bei Sylvia gefruchtet hatte, die zwei weitere Jahre danach dann ertrunken in einem Fluss gefunden worden war. Ursache: Unbekannt, aber bekannt.

Photo von Annika Rabenschlag

Sie hatte vor, diesen, ihren verhassten Bus nach Hause zu nehmen, der mittlerweile eine andere Liniennummer hatte, wo sie ihre Mutter treffen würde, die sie liebte und die schon so lange versuchte, so vieles zu verstehen, die aber so vieles nicht verstand. Sie hatte Musik im Ohr, von einer Band, die sie vor Kurzem empfohlen bekommen hatte. Sie machten etwas Raues, Kaltes. Man hatte ihr gesagt, es passe zu dieser Stadt. Es wurde gesagt, dass es an etwas aus den 80ern erinnere, doch es war mehr ein Gefühl, an das sie erinnert wurde. (Ihr war bewusst, dass sie noch vor ein paar Tagen festgestellt hatte, dass man sich an Gefühle nicht erinnern konnte). An kein Gefühl von Vergangenheit, sondern von in die Zukunft weisende Gegenwärtigkeit, die an die vergangene Zeitspanne zur Vergangenheit erinnert. An die Ambivalenz zwischen der Sehnsucht nach Aufbruch und der zeitgleichen Suche nach Nähe und Geborgenheit. An das Wissen um diese Ambivalenz und seine Paradoxität. An die deswegen mehr als Lähmung empfundene Unfähigkeit, diesen Widerspruch im alltäglichen Ringen mit dem Alltag aufzulösen. An die leeren Stunden in den dunklen Ecken der Tage. Gefüllt mit allerlei Sehnen nach Bedeutung. An das Sich-Begeben in Situationen, die Tränen oder Traurigkeit auslösen würden. Nur um etwas zu spüren. An die Unmöglichkeit, mit diesem Spüren dann klarzukommen, wenn es dann da war. An Liebe, die zusammen unerträglich, allein aber unmöglich war. An das Wissen – wenn man ehrlich war, von vornherein – um diese Unmöglichkeit wiederum und die inhärente Paradoxität des Sich-Begebens. An das Begreifen, dass man in diesem Kreis gefangen war (und ist). Dessen Radius sich – je älter man wurde – immer weiter von einem selbst wegdrehte, der aber dann, wenn er wieder an seinen Anfangspunkt zurück gelangte – was Kreise so an sich hatten und haben – um so mehr einschlug und schlägt und dem Bild, das man von sich selbst erzeugt geglaubt zu haben, mit dem eiskalten Zusammenbruch drohte, der oft eintrat. (Ihr Spiegelbild, das sie vorhin in einem Ladenfenster gesehen hatte, hatte sie hingegen an nichts erinnert.)

Die Bushaltestelle hatte mal wieder nicht vor Wind geschützt. Der Bus war um die Ecke geschlittert gekommen, so anonym wie nur Busse um Ecken schlittern. Sie hatte ihre orangen glänzende Jacke enger um sich gezogen. Mit einem zu Beginn kurz dröhnenden Pfeifen hatte der gelb und blau gemusterte Bus gehalten und (nur) die hintere Doppeltür geöffnet, deren Sichtgläser so verschmutzt gewesen waren, dass sie ihren ganzen Zweck ad absurdum geführt hatten, womit sie in Gedanken kurz jongliert hatte. Kein Transportmittel, eine bewegliche Zeitreise. Dann das Gefühl, das sich so angefühlt hatte wie erwischt werden, weil man dachte, dass man all das längst hinter sich gelassen hatte, aber instinktiv gewusst hatte, dass man sich damit nur selbst belogen hatte. Die Tür hatte sich geschlossen und die Stadt war von einer retrograden Kraft immer schneller an ihr vorbeigezogen worden. Die Häuser, die Ecken, die Fenster, die Werbeplakate, die früheren Kioske und jetzigen Ruinen, die Hundescheiße, die wenigen Gesichter. Alles vergangen, alles gleich, alles dabei, vergangen zu sein. Ihre Gefühle mannigfach und so wenig zu greifen wie die Erinnerungen, die gerade an ihr vorbei gerast waren.

Vorne links im Bus sitzt ein junges Mädchen. Vor ein paar Wochen ist es an dieser Bushaltestelle von einem Mann in einem alten Mercedes angesprochen worden und war so erschrocken, dass es sofort das Weite gesucht hatte. Jetzt blickt es aus dem Fenster und denkt sich an ferne Orte, während dieser hier vor ihr verwischt. Sie weiß es, weil sie es wusste (und war sich dieser Tautologie bewusst) Die Musik in ihrem Ohr wiederholt sich manisch, doch wird ganz anders. Das Mädchen entdeckt sie in der Spiegelung der Scheibe, die den Busfahrer vom Sitzraum abschirmt. Das Mädchen dreht sich um. Sie steht auf. Sie wird sich an den Seitengriffen der Stühle festhalten und mit dem wackelnden Bus hin und her wippen. Sie wird erst unsicher zu Boden gucken, doch dann fest in ihr Gesicht. Sie wird näher kommen. Sie wiederum wird die Kopfhörer aus den Ohren nehmen. Der dann auch außerhalb ihres Gehörganges hörbare, treibende, später tanzbar werdende Rhythmus wird ein rauschendes Manifest gegen die Stille des Busses beschreiben. Sie wird vor ihr stehen bleiben und sich mit der rechten Hand an der Schlaufe über ihr festhalten. Sie wird sie gemustert und die Stirn gerunzelt haben. Sie wird zu ihr gesagt haben:

„Hattest du nicht gesagt, dass du eigentlich ganz anders wirst?“

Nach „Seid umschlungen, Millionen“ und „Es geht sich aus“ ist „Alice“ der dritte Langspieler der Band KARIES aus Deutschland. Recordet, produziert und gemischt wurde er von Max Rieger (All Diese Gewalt, Die Nerven), gemastert von Ralv Milberg (Éclat). Das Cover wurde gestaltet von Levin Stadler. „Alice“ erscheint auf This Charming Man Records. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr lesen.
Zur Veröffentlichung von „Alice“ spielt die Band KARIES folgende Konzerte an folgenden Orten. 22.09.2018 Hamburg – Reeperbahn Festival
07.11.2018 Wiesbaden – Kreativfabrik
08.11.2018 Köln – Gebäude 9
09.11.2018 Osnabrück – Kleine Freiheit
10.11.2018 Bremen – Lila Eule
11.11.2018 Berlin – Lido
12.11.2018 Dresden – Groovestation
13.11.2018 Leipzig – Ilses Erika
14.11.2018 Chemnitz – Nikola Tesla
15.11.2018 Nürnberg – Künstlerhaus
16.11.2018 Würzburg – Cairo
17.11.2018 Esslingen am Neckar – Komma