Fragmente

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Im Durchschnitt Liebe.

Ordinary Corrupt Human Love von Deafheaven.

Ein leuchtendes Messer schneidet durch den Regen dieser Nacht. Auf Schienen gezogen, von unsichtbarer Hand, durch die Rippen, Nieren, Adern und Venen der grauen Stadt. Hinterlässt neben Blut nur Rauschen, das die Kaskaden der Tropfen gar kurz nur zu unterbrechen vermag und das Gefühl, dass im Nichts des Versteckens vor dem Nass, doch noch Leben sich verbirgt. Es bietet Schutz zwar vor der Kälte und der Nässe, doch niemals vor den Gedanken, die einen darin jagen. So auch ihn. Er kommt spät von der Arbeit, wie immer. Er will etwas daran ändern, hauptsächlich den Beruf und das Leben und die Lebenslügen, die damit verbunden sind. Auch das – wie immer. Vor ihm unterhält sich ein Besoffener mit seinem Spiegelbild. Zumindest gibt es keinen Grund, sich zu widersprechen.

Die Haltestellen, die die Klinge führen, könnten hier sein, sie könnten aber auch überall anders sein. Mit ihren billigen Grafitti-Sprüchen und ihrer blinkenden Beleuchtung und ihren paar Spätarbeitern, denen gerade vor dem Beginn ihrer Schicht graut und ihren paar Drogenabhängigen, aber auch nicht so vielen, dass es zu extrem wäre und ihren austauschbaren Werbeplakaten für austauschbaren Kram und ihren mit hässlichen Farben gestalteten Fahrplänen mit den immer gleichen Intervallen außer an Sonn- und Feiertagen und dem latenten Pissgeruch und der Fliese, die rausgebrochen ist, weil an diesem einen Abend dieser eine Typ beim Geburtstag von dem anderen Typen zu viel gesoffen hatte und dann besoffen wegen dieser Geschichte über diese Frau, die er mochte, die ihm so gar nicht gepasst hatte, dann gegen die Fliese getreten hat, wobei er sich den Zeigefinger-Zeh gebrochen hatte, was er erst am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen bemerkt hatte und dem immer gleichen mechanischen Zieh-Geräusch der Rolltreppe, auch: Dreck. In ihrer Austauschbarkeit könnten sie ihn in fremde Welten transportieren, würden sie in ihrer ausdruckslosen Langeweile nicht eben seine Unfähigkeit zum Ausbruch in diese fremden Welten doppelt unterstreichen.

Das Messer schneidet und er denkt. Daran, dass er innerlich tot ist. Daran, dass es einmal etwas gab, das ihn etwas spüren ließ. Daran, dass das alles entweder durch Gewohnheit oder durch Altwerden oder durch generelle Abgestumpftheit ob des Wahnsinns und der Idiotie der Welt, der man täglich ausgesetzt ist und der man sich aussetzen muss, einfach abhanden gekommen ist. Daran, dass es nicht einmal mehr Gras oder Alkohol oder dann und wann etwas Kokain, MDMA oder Speed vermögen, etwas in ihm auszulösen, was nicht mehr ist, als ein kleines Ausscheren der Nadel eines Geigerzählers, der einen zwar unberechenbaren, aber eben auch mit einkalkulierten Sprung nach oben oder nach unten gemacht hat. Daran, dass nicht einmal eine dumme, weil sinn-, plan- und ziellose Affäre an diesem tumben Nichts-Fühlen etwas ändern konnte. Daran, dass auch dann, wenn man Gefühle und ein "Ich liebe Dich" als Antwort auf ein "Ich liebe Dich" einfach bestmöglich versucht zu imitieren, so wie man denkt, dass man das früher einmal gesagt und gefühlt hat, dafür sorgen, dass diese Gefühle – aus Erfahrung – de facto zurückkommen. Und daran, dass es eigentlich nicht sein kann, dass dieses Imitieren niemand durchschaut, es sei denn, das geantwortete "Ich liebe Dich" war eben auch imitiert. 

Dieses "etwas" von weiter oben, das war früher mal Musik, das war früher mal ganz selten richtige Freundschaft, und das war früher vor allem mal Liebe. Das, wovon es immer abgedroschen ist, zu sprechen, weswegen es niemand so richtig ehrlich tut, da einem die Worte für das Besondere an der Liebe fehlen, weil man diese nicht mit Worten ausdrücken kann, man kann es nur versuchen und vielleicht etwas näher an den Kern herankommen, aber niemals ganz, weswegen man durch die durchschnittliche Wortwahl an seinen eigenen Durchschnitt erinnert wird und die ganze Besonderheit in Durchschnitt zerfällt und wer will schon durchschnittlich sein. Dann lieber Zynismus, der nimmt ohnehin nichts ernst. Aber der Abstand zu diesem Thema – Liebe – führt zum Abstand von sich selbst, weil zur eigenen Gefühlslage und wahrscheinlich nicht allein zu dem Nicht-Fühlen auch von weiter oben, aber er macht es ganz sicher auch nicht gerade besser.

Früher waren diese Gefühle so gewesen, dass ein Leben mit ihnen quasi nicht möglich war. Denn sie nahmen alles ein, jeden Sonnenstrahl und jede Wolke und jedes Wort und jedes scheiß Produkt in einem Supermarkt und jedes Auto auf einer Straße und jeden dummen Satz, den man hört und eben jede Sekunde. An Pflichten und solch Zeug war da eigentlich nicht zu denken und damals musste man es vielleicht auch einfach nicht. Eine mechanisch-kratzende automatische Stimme sagt die nächste Haltestelle durch. Noch fünf bevor er raus muss. Die Gefühle ... sie waren erschlagend, manchmal schmerzhaft und im Grunde sehr anstrengend für Körper und Kopf. Doch sie waren vor allem eines: Erfüllend. Und zwar in dem Sinne, dass die innere Leere ob all der Möglichkeiten und Bedeutungen, die man hat und füllen kann und eigentlich nicht wirklich weiß, wie, dann plötzlich von jemand anderem gefüllt wurde. Mit jemand anderem, um genau zu sein. Die Nervosität vor der Leere, vor der jeder Mensch – belügen Sie sich nicht selbst – mit all dem Yoga und dem Training und dem Bingen und dem Alkohol und den Instagram-Posts nur versucht, zu fliehen – und die Angst davor und das langsame Entdecken des Wissens um diese Angst, das alles war mit dem Mitfühlen der gleichen Nervosität und Angst mit einer anderen Person gefüllt und das ist ein verdammt gutes Gefühl, da man weiß, dass man damit nicht alleine ist. So gut, dass es wie eine Sucht sein konnte und dass allein der Gedanke an das Verschwinden des Gefühls wie ein Wasserfall sich über einen ergießen konnte.

Und jetzt war das Gefühl weg. Das Besondere, das Erschlagende, das Erfüllende. Nicht durch einen Wasserfall. Sondern durch das Jahrelange Abtragen eines durchschnittlichen Gewässers. In gerade so kleinen Mengen Sediment, dass es auf kurze Zeit unmerklich war, aber einen dann plötzlich in einer Straßenbahn auf dem Nachhauseweg an einem Donnerstag von der beschissenen Arbeit in die beschissene Wohnung erwischt, wo wahrscheinlich schon wieder alles rumsteht und wo man eigentlich schon lange Staubsaugen müsste, wo die Blumen langsam braun werden, weil jeder immer nur vergisst, sie zu gießen und wo sich das Geschirr in der Spüle stapelt und wo es immer so ein bisschen nach abgestandener Luft riecht, wenn man reinkommt, weil man das mit dem Lüften nicht so ernst nimmt und wo ein Sammelsurium aus Möbeln zweier Leben steht, wo die einen dem anderen nicht so wirklich gefallen und umgekehrt. Wo alles so verdammt durchschnittlich ist, dass man dem Durchschnitt am liebsten mit einer stumpfen Schere die Pulsadern durchschneiden würde – und wo sie gerade schläft. 

Chelsea Wolfe und George Clarke im Studio.

Die mechanische Stimme wieder. Noch zwei Stationen, bis er in den Regen wird müssen. Eigentlich war von Anfang an alles zum Scheitern verurteilt gewesen. Zwei Leben, die gerade nicht aneinander vorbei geschrammt waren. Doch sie waren dabei geblieben, hatten sich – vielleicht aus Einsamkeit, vielleicht aus der Hoffnung heraus, mal wieder so etwas zu spüren wie oben beschrieben, vielleicht aus Egoismus (Egoismus ist immer ein Thema [nochmal: belügen Sie sich nicht selbst]), vielleicht auch aus Langeweile, wahrscheinlich aber aus einer Mischung aus allem – zusammengerauft. Waren beide über ihre Schatten gesprungen. Hatten in den Momenten, in denen sie schreien wollten, gelächelt – und umgekehrt. Und jetzt war man so weit miteinander gegangen, jetzt hatte man einen gemeinsamen Freundeskreis und lebte das Leben miteinander aneinander vorbei, so dass es nicht wirklich einen Grund gab, nicht mehr zusammen zu sein. Aber eben auch nicht umgekehrt.

Regelrechtes Hassen hatte er gelernt. Und zwar Profi-Klasse Hassen. Hassen, wie man nur jemanden hassen kann, mit dem man wirklich alles teilt. Vom Mundgeruch am Morgen bis zu den Kackresten in der Toilette am Abend. Die Sorte Hass, die älteren Paaren die Furchen in die Gesichter treibt und das Grau in die Haare. Hassen, wie jemand etwas sagt. Hassen, wie jemand lacht. Hassen, wie jemand die Türe immer gleich zumacht. Hassen, wie jemand immer in die gleichen Verhaltensmuster fällt, die auf die immer gleichen konträren Verhaltensmuster bei einem selbst treffen, weswegen man sich dann anschreit und dann anschweigt und dann hauptsächlich sich selbst hasst. Hassen, wie man nur jemanden hassen kann, den man eigentlich liebt. Hassen, wie man den Regen dann hassen kann, wenn man an einem Donnerstag in einer Herbstnacht von ihm angepisst wird.

Die Ampel und die wenigen ins Nichts starrenden Gesichter. Alle durchsichtig, alle unsichtbar, alle in ihrem Leben verloren, in ihren immer gleichen Wegen. Wie er. Der jetzt die wenigen Querstraßen durch dieses orangen verwaschene Straßenlicht läuft. Jeder Schritt ein Platschen. Jeder Schritt ein weiterer in die eigene Misere. Er hatte eigentlich Musik im Ohr, doch war so in Gedanken verloren, dass die schwarzen Kopfhörer jetzt stumm vor seinem Mantel baumeln. Ein Regentropfen trifft den Knopf in seinem rechten Ohr. Er spürt ihn zwar, doch registriert ihn lediglich. Vor dem Tor dann hält er inne. Weswegen weiß keiner. Er kramt den Schlüssel aus der linken Hosentasche. Der Regen prasselt jetzt richtig. Irgendwo bellt ein Hund. Rein ins Tor, der Bewegungsmelder weist ihm die Tür, dann die vier Stockwerke, jede Treppe, jede Drehung, jeder Handgriff über Jahre automatisiert. Den Schlüssel so ruhig wie möglich bewegen, wie immer. Da, die abgestandene Luft. Er macht das Licht im Flur gar nicht erst an, kehrt dem Schlafzimmer den Rücken, geht in die Küche, vielleicht steht da noch eine Flasche Bier. Die linke Hand schaltet die Glühbirne über dem Dunstabzug an. Dann ein Zettel auf der Anrichte: "Im Kühlschrank ist noch Essen. Du bist sicher hungrig. Iss ruhig auf."

Doch, auch ein Tropfen kann einen wie ein Wasserfall treffen.

Diesem absolut durchschnittlichen, weil eben menschlichen Gefühl der Zuneigung widmen Deafheaven ihr viertes Studioalbum. Doch dafür mussten sie erst durch alle Höhen und Tiefen waten, die mit plötzlichem – freilich limitiertem – Erfolg kommen. Beschrieb "Sunbather" ihren internationalen Durchbruch, konnte "New Bermuda" ohne Weiteres daran anschließen und brachte die Band nicht nur auf schier nicht enden wollende Tourneen, sondern auch an den Rande des körperlichen und geistigen Ruins. So forderte die Dialektik des Lebens zwischen Schlafplätzen auf dem Boden von Freunden im immer teurer werdenden San Francisco und durch die Welt tingelnden Tourbussen mit genügend Kohle in der Hand für Alkohol und Drogen der Band den Bassisten Stephen Clark und riskierte die Gesundheit der Bandmitglieder. So mussten George Clarke und Kerry McCoy, die beiden Gründer und Hauptverantwortlichen für Musik, Texte und Artwork der Band, nach dem Ende des Zirkus und dem Aufschlagen auf den harten Betonboden der Realität des Lebens in den USA erstmal ihre Abhängigkeiten bekämpfen, um danach den Überlebenskampf der Gruppe selbst zu bestreiten. Denn der Druck, ein Album zu schreiben, das an alte Erfolge anschließen und noch einen drauf setzen konnte, war enorm. Genau, wie die Ungereimtheiten aus vermeintlich kleinen Zwisten, die sich zu purem Hass entwickeln können, wenn man jahrelang keine Pause voneinander hat.

Für Deafheaven kam der Weg aus dem Grau über die nüchterne, nackte, unverblümte, ehrliche – menschliche – Nähe zueinander. Denn erst, als sich die vier verbleibenden Mitglieder in einem Proberaum in Oakland, Calfornia, eingefunden hatten, konnten sie ihre Zwiste bei Seite legen. Ausgehend von einer einzigen Piano-Figur entwickelten sie gemeinsam "Ordinary Corrupt Human Love". Eine der mutigsten und mannigfaltigsten Verneigungen des Jahres vor all dem, was man oftmals nicht vermag, sich einzugestehen, das einem im Leben Halt gibt. Nämlich die Art von Halt, die auch dann da ist, wenn die Scheinwerfer nicht auf einen leuchten und das Kokain, das Gras, der Alkohol nicht durch den Blutkreislauf zirkulieren. Sondern dann, wenn man mit Übergewicht und fettigen Haaren und keiner Kohle in den Taschen vor nichts als dreckigen Bettlaken und ein paar Notizen steht.

Und aus diesem Quell konnten Deafheaven ihr bisher unbestritten bestes Material schöpfen. "Ordinary Corrupt Human Love" ist fernab von den alten vorwerfenden Urteilen, mit denen die Band sich konfrontiert sah. Das Album changiert ohne Probleme zwischen poppigen Interludes, choralen Arrangements und Clarkes typischem Black Metal Gesang. Verneigt sich im selben Song vor The Smiths, Slowdive, My Bloody Valentine und Björk. "Honeycomb" und "Canary Yellow" werden dabei zu Blaupausen für all das, was unter dem Banner Deafheaven möglich ist. Und für alle Gefühle, die dieser Name auslösen kann: Verzweiflung, Melancholie, Resignation, doch auch Hoffnung und – Freude. So formuliert Clarke in "Honeycomb" die Maxime des Albums: "I'm reluctant to stay sad." und nähert sich dem eigens gesetzten Ziel mit seinen bisher ausgefeiltesten Texten. Erzählt von Mariachi-Klängen, gedämpften Fußschritten in Feldern und der Hoffnung, gemeinsam älter zu werden. Ein Schritt, der neben Mut vor allem Reife bedarf.

Reife, sich von seinen eigenen Ängsten oder gesteckten Grenzen zu lösen. So ist die größte Überraschung des Albums wohl "Night People", ein lupenreiner Pop-Song der die Stimmen Chelsea Wolfes und George Clarkes unter den Drones Ben Chisholms sich umkreisen lässt und nur von einem Klavier begleitet wird. Dieses Entledigen der eigenen Eitelkeiten und das Eingestehen und Akzeptieren dessen, was einem zu dem macht und gemacht hat, der man ist, macht die wahre Größe und Stärke dieses Albums aus. Ein Album, das einem in einsamen Nachstunden zur Seite stehen kann, aber auch bei 30 Grad im Sonnenschein seine Kraft entfaltet. Denn überall dort verbergen sich die kleinen Gewöhnlichkeiten, die uns in ihrer Gesamtheit zu dem Außergewöhnlichen machen, das wir sind – und das eine andere Person lieben lernen kann. Ist es auch noch so klein. Vielleicht hat es die Extreme der Erfahrungen dieser Band gebraucht, dies zu verstehen, vielleicht sind sie auch einfach nur erwachsener geworden. Fest steht, dass von diesem Punkt aus für Deafheaven alles möglich ist. Und für ihrer Hörerschaft ein Album bleibt, in das es noch jahrelang lohnen wird, einzutauchen.

"Ordinary Corrupt Human Love" von Deafheaven ist bereits auf ANTI Records erschienen. Wir empfehlen den legalen Erwerb. Produziert, gemixt und gemastert wurde das Album – wie alle Platten zuvor – von Jack Shirley. Die Art Direction sowie das Design stammen von Nick Steinhardt. Die Photographie von Sean Stout. An dem Song "Night People" haben Chelsea Wolfe und Ben Chisholm mitgewirkt. Auf "You Without End" liest Nadia Kury Exzerpte aus der Kurzgeschichte "Black and Borax" von Tom Meelravey. Im Zuge der Veröffentlichung des Albums wird die Band im Herbst einige Schauen in Europa begehen. Die Termine dazu finden Sie hier. Wir empfehlen das Beiwohnen wärmstens. Einen Eindruck davon, wie sich so ein Abend zutragen könnte, können Sie hier bekommen. Des Weiteren empfehlen wir die Auseinandersetzung mit den früheren Werken der Band. Im Übrigen finden wir, Sie sollten mehr lesen.