All diese Gewalt und der Zwang des Fortgangs.
Alles bleibt im Fluss. So die Prämisse hinter dem unlängst veröffentlichten, zweiten Album "Welt in Klammern" von All Diese Gewalt. Die Absicht zeitigt Wirkung. Der Nachfolger des viel zu wenig beachteten Debüts "Kein Punkt wird mehr fixiert" mäandert so stringent zwischen elegischen Aufbauten, epochalen Ausbrüchen und exzentrischen Arrangements, dass man während des Hinhörens die Zeit vollkommen überhört. Die überschwänglichen Reaktionen der Medien bestätigen es: Das Werk als Folge der Kraftanstrengung Max Riegers ist imposant und imponierend gleichermaßen. Gehen Rhythmen, Texte, Instrumente, Produktion und Mix doch auf das Konto des selbigen. Lediglich das Mastering hat der musikalische Ziehvater Riegers, Ralv Milberg, übernommen.
Dass nach dem Erscheinen der Platte auf dem viel gerühmten Indie-Label Staatsakt eine Tour folgen würde, blieb zu erwarten. Nach Shows in Hamburg, Frankfurt und Berlin steht nun das quasi Heimspiel auf dem Plan. Der Club Manufaktur in Schorndorf wird mit einer der seltenen Shows von All Diese Gewalt beglückt. Zum Behufe jener hat Rieger ein Ensemble aus Musikern um sich gescharrt: Jannis Petterson von Walls & Birds bespielt das Schlagzeug, Thomas Zehnle von Wolf Mountains den Bass und Dennis Melster von Blue Angel Lounge die Gitarre. Beim Schritt in den Saal stellen wir fest, dass Ralv Milberg höchstpersönlich die Sound-Knöpfchen dreht. Während ein Blick durch das Publikum verrät: Das Soloprojekt Max Riegers, der viel zu oft nur auf seine Tätigkeit als Sänger und Gitarrist von Die Nerven reduziert wird, spricht ein mannigfaltiges Publikum an. So reihen sich Fantasten jüngerer wie älterer Gattung neben Stuttgarter Musikern und der Lokalpresse ein.
"Wie es geht" eröffnet die Nacht. Postiert die vier Musiker als stilvoll zurückhaltende Antipoden des Vorhangs. Versetzt die Zuschauer in andächtiges Schweigen. Denn die instrumentale Übersetzung hunderter einzelner Drones vom unsterblichen Medium des Longplayers auf das vergängliche Format eines Konzerts, beeindruckt binnen weniger Minuten. Der Ton verbannt die Musiker in die Selbstvergessenheit. Gibt den Kampf zwischen laut und leise, Ebbe und Flut, Aufbau und Zerstörung in die Hände der menschlichen Mechanik. Angeführt nicht von Max Rieger, sondern von genau jenem Schritt, der der heutigen Manifestation des jeweiligen Songs am besten entspricht.
So ergeben sich die Musiker in die Klaue der Komposition wie der Instrumentation. Bis ins Rückenmark flüsternd, scheint Rieger mit dem ganzen Körper samt Gitarre eins mit dem Mikrofon werden zu wollen. Verbiegt Rücken wie nackte Füße beinahe pflichterfüllt um die Töne herum, die er aus seinen Fingern wie aus der Selektion an Pedalen vor sich kitzelt und in den Raum schickt. Schreit dann wieder. Schreit, wenn der Rhythmus Petterson gebietet, schneller zu werden. Schreit, wenn die Gitarre Melsters Feedback-Berge aus dem Nichts erhebt. Schweigt, wenn der Song es gebietet. Verleiht ihm doch stets mit simplen, sich wiederholenden Explosionen seiner idiosynkratischen Stimme Ausdruck.
Die Danksagungen zwischen den Songs sind knapp. Der Applaus währt umso länger. Denn wozu sich dieses Publikum heute eingefunden hat, wird erst im Fortlauf des Sets klar. Es ist das Zeugentum der Genese einer Person, die sich voll und ganz dem kreativen musikalischen Prozess verschrieben hat. Rieger, als erster Ansprechpartner der Noten, harmoniert selbst dann mit Zehnle, wenn er den Boden zu einem Starrduell auffordert. Lässt ihn jedoch mit Petterson frei durch den Takt wildern. Kokettiert, ohne es zu versuchen, mit dem Krach Melsters. Welcher genauso seine eigenen Strippen zieht und Songs eigenmächtig über Berge und Täler trägt. Über eine stark in der aktuellen Platte beheimatete Setlist wird All Diese Gewalt in gut 90 Minuten geradezu hypnotisierend zum heterogen handelnden wie denkenden Kollektiv. Zum atmenden Organismus, der stets unabhängig wachsen wie schrumpfen kann. In dessen Epizentrum Rieger sich in großmännischen Gesten und songschreiberischen Großtaten genau deswegen zum Wortführer erhebt, weil er dies keineswegs im Sinn hat. Sondern weil das Schaffen aus ihm herausfließt. Nein, es scheint: Herausfließen muss.
Während die vier also zur Zugabe auf die Bühne geklatscht werden, erklärt sich, warum All Diese Gewalt im Fluss bleiben. Weil der Schaffensprozess keinen Stillstand duldet. Keine Wiederholung erlaubt. Kein Gestern kennt. Sondern nur den Morgen. "Morgen Alles Neu" heißt ein Song auf der aktuellen Platte treffend. Er wird dem Club Manufaktur heute geschenkt. Deswegen steckt Rieger bereits in der Produktion der nächsten All Diese Gewalt Platte. Deswegen können bereits neue Songs zum Besten gegeben werden. Deswegen ist der zweite Teil der Tour bereits in Planung. Deswegen empfehlen wir, allen Shows beizuwohnen. Vielleicht sogar die nächsten zwanzig Jahre lang.
Eine photographische Rekonstruktion der Schau von All Diese Gewalt finden Sie hier. Zum Üben für das nächste Konzert der Gruppe empfehlen wir den Erwerb der Platten "Kein Punkt wird mehr fixiert" und "Welt in Klammern". Im Übrigen sind wir der Meinung, Sie sollten mehr Human Abfall hören.